Butoh-Tanzperformance in der Kirche St. Paul

Zeitreisende im Halbdunkel

von Michael Wüst

Tänzer, Butohatelier Marb Foto: Michael Wüst

Am 10.Mai 2025 konnte das Wandervölkchen der “Langen Nacht der Musik” in der Kirche St. Paul eine Theaterform erleben, die nicht so einfach zu erfassen ist. Die Butohgruppe des Tänzers und Choreographen Stefan Marb zeigte Body_Prayer - ein Tanzgebet. 14 Tänzerinnen und Tänzer, fremdartige Gestalten, saßen in tiefer Devotion verteilt in den Reihen des Kirchengestühls unter dem Publikum.

Zwei Völker, wie sie verschiedener nicht sein können. Das Publikum bestand ja nicht ausschließlich aus Butoh-Fans. Mit dem Einsetzen der Musik von Peter Gerhartz an der Orgel und Jost H. Hecker am Cello verstärkt sich das Klagegebet der fremden Gestalten in den Sitzreihen. Dunkle Rufe, Wispern, unverständliche Litaneien mischen sich mit den suggestiven Klängen der Musik, die nicht lokalisierbar, omnipräsent den Raum erfüllt.

Gerd Lohmeyer. Foto: Michael Wüst

Auf der Kanzel taucht eine weitere Figur (Gerd Lohmeyer) auf, der Kopf ist wie bei den anderen Gestalten durchscheinend von einem roten Schleier umhüllt. Eine Predigt? "Nah sind wir, Herr/nahe und greifbar/Gegriffen schon, Herr/ineinander verkrallt/als wär/der Leib eines jeden von uns/dein Leib, Herr”. Der erste Vers bereits des Gedichtes “Tenebrae” von Paul Celan aus dem Jahr 1957 verbindet das Babylonische Exil und die Shoa, Schicksalsdaten des jüdischen Volkes. Celan verteidigte sich gegen den häufigen Vorwurf, eine dunkle Stimmung in seinen Gedichten bewusst evoziert zu haben, mit der Bemerkung, dass er - vielleicht einen seltsam tonlosen - Ausgangspunkt der sprachlichen Stimme aufsuche. Das entspricht Schriften von Edmund Husserl und Edith Stein, die den Leib als einen Nullpunkt der Orientierung bezeichnen, in dem Seele, Subjekt, Empfinden und Emotion zusammen laufen.

Die Tänzerinnen und Tänzer kommen jetzt aus den Sitzreihen, vereinigen sich aus beiden Seiten im Mittelgang und nähern sich dem Altarbereich. Dort werden ihre Körper deklamatorisch, die Gruppe schwingt hin und zurück, sie strecken ihre Arme in die Höhe, sie zerfasern, verteilen sich in einzelnen Ausbrüchen, scheitern. Sie sind nahe noch am Nullpunkt der Orientierung, sie müssen das, was in der menschlichen DNA codiert ist, all die Erfahrungsdaten des (Über-)Lebens erst sammeln und strukturieren. Am Ende finden sie sich um die kleine Figur von der Kanzel (Gerd Lohmeyer) an der Rückseite der Kirche wieder. Der spricht die Worte des am Stärksten vom antiken Griechentum beeinflussten Dichter, Friedrich Hölderlin:

Butoh-Tänzer. Foto: Michael Wüst

“Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen/dass er, kräftig genährt, danken für Alles lern!/Und verstehe die Freiheit, aufzubrechen/wohin er will!” Der folgende Black Out lässt die Gruppe der Zeitreisenden in einem Halbdunkel stehen. Brechen sie auf? Wissen sie, wohin sie wollen? Das Wandervölkchen der langen Nacht der Musik hat keine Zweifel, ihre Tour geht weiter.

 

Veröffentlicht am: 14.05.2025

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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