"Ulbricht drängte auf die Mauer" - Interview und Fotos zum Jahrestag des "antifaschistischen Schutzwall"

von Michael Weiser

Die Mauer von 1961 im November 1989. Foto: Michael Grill

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“: Walter Ulbricht hatte nicht nur die Absicht, er drängte die Sow­jets sogar jahrelang zum Bau der Berliner Mauer und manipulierte Moskau. Die Machenschaften des Stalinisten Ulbricht beschreibt die Historikerin Hope M. Harrison im Buch „Ulbrichts Mauer“. Kulturvollzug-Redakteur Michael Weiser sprach mit der Historikerin zum 50. Jahrestag des Mauerbaus  am 13. August. Zum Interview zeigen wir außerdem eine bislang unveröffentlichte Fotoserie von Michael Grill. Sie entstand, als die Mauer fiel.

Kulturvollzug: Sie waren 1989 in Berlin - zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.

Hope M. Harrison: Ich hatte mich schon vorher damit beschäftigt und plante, meine Doktorarbeit über die Mauer zu schreiben. Ich war sehr neugierig, wie das wohl ist, wenn eine Mauer mitten durch eine Stadt läuft. Ich konnte mir das nicht vorstellen und wollte wissen, wie es dazu kommen konnte, und zwar sowohl aus der Sicht Ostberlins als auch Moskaus. Und ich hatte das Glück, am 9. November 1989 im Flugzeug nach Berlin zu sitzen. Die zehn Tage in Berlin, diese Stimmung – das war phantastisch. Bald danach war der Kalte Krieg zu Ende, und ich konnte auch die Archive einsehen. Ich war mehrmals deswegen in Berlin und in Moskau…

…und fanden heraus, dass Ulbricht die treibende Kraft hinter dem Bau der Mauer war und nicht Moskau.

Es war natürlich nicht Ulbricht allein. Aber er war derjenige, der die Frage auf die Tagesordnung gesetzt hat, und er hat Moskau acht Jahre lang gedrängt und gedrängt. Er sagte, wir müssen dieses Tor in den Westen schließen. Berlin war schon seit 1952 der einzige Ort, an dem man sich verhältnismäßig leicht zwischen Ost und West bewegen konnte. Die Russen verweigerten sich Ulbrichts Wunsch lange Zeit, auch aus Sorge um ihren Ruf in der Welt. Und sie hielten eine solche Lösung für technisch schwer umsetzbar. Sie drängten Ostberlin, eine andere Lösung zu finden, um die Leute im Land zu behalten. Ulbricht war es auch, der eine Mauer wollte und nicht nur Stacheldraht. Durch Stacheldraht hätte man Bewegungen an der Grenze besser beobachten können. Aber Ulbricht sagte, es sei zu einfach, dort durchzubrechen. Also drängte er auf seine Mauer.

Einige Historiker sehen dennoch die Verantwortung bei Moskau.

Die Sowjets hatten die Führung in den letzten drei Wochen vor dem Bau der Mauer übernommen. Manfred Wilke folgert daraus, es sei nicht Ulbrichts, sondern Chruschtschows Mauer gewesen. Natürlich mussten die Russen letztlich zustimmen. Ulbricht brauchte Moskaus Macht im Hintergrund. Aber das ändert für mich nichts daran, dass Ulbricht in den acht Jahren zuvor das Thema Grenzschließung auf die Tagesordnung gesetzt und ausführliche Pläne zur Grenzschliessung gemacht hat.

Der Aufstand am 17. Juni 1953 war die erste große Krise des Regimes in der DDR. Ist der Eindruck zutreffend, dass Ulbricht diese Krise für die Umsetzung seiner Ziele nutzen konnte?

Ja. Aber es war nicht nur das. Ihm half auch die Entmachtung des Geheimdienstchefs Lawrenti Berija in Moskau. Vor dem Aufstand in Berlin hatten die Sowjets die Kontrahenten Ulbrichts in der Parteiführung unterstützt. Diese Gegner setzten auf Reformen und größere Offenheit gegenüber dem Volk, was Ulbricht ablehnte. Erst recht nach dem Aufstand; er konnte Moskau glaubhaft machen, wie sehr die DDR unter Druck stehe und von der Wühlarbeit des Westens untergraben werde. Zunächst schwankten die Sowjets. Den Ausschlag gab schließlich der Prozess gegen Berija. Einer der Anklagepunkte besagte, dass er die DDR hatte verraten wollen. Danach hatte Moskau großes Interesse daran, dass die Führung in der DDR stark und einig war. Das gab Ulbricht viel Macht in die Hände.

Welche Rolle spielten die Charaktere der beiden Machthaber in Ostberlin und Moskau?

Chruschtschow glaubte wirklich an den Kommunismus. Das tat auch Stalin, doch setzte der zur Verbreitung des Kommunismus lieber auf Zwang und militärische Macht. Chruschtschow glaubte dagegen an die Anziehungskraft des Sozialismus. Er ging davon aus, dass sich der Wettstreit zwischen den beiden Systemen in Deutschland entscheiden würde. Deswegen war die DDR für ihn so wichtig: Sie war der Super-Dominostein, dessen Fall in die eine oder andere Richtung alles entscheiden würde. Die DDR war das Schaufenster, in dem der Sozialismus als besseres System präsentiert werden sollte.

Und das nutzte Ulbricht selbstbewusst und zielstrebig aus…

Ja, mit Machtbewusstsein, Hartnäckigkeit und Arroganz.

Sie verwenden den Begriff „asymmetrische Ab­hängigkeit“. Was verstehen Sie darunter?

Gerade während des Kalten Krieges herrschte der Eindruck vor, die Beziehungen zwischen Großmacht und Verbündeten seien auf einer Einbahnstraße gelaufen: Absolute Macht hier, totale Abhängigkeit dort. In der Tat benötigten Ulbricht und sein Regime bitter wirtschaftliche Hilfe aus der Sowjetunion. Aber Ulbricht hatte seine ganz eigene Art, diese Hilfe einzufordern, mit der er Chruschtschow verrückt machte. Er hat Ulbricht öfter daran erinnert: Wie viel Geld und Güter die UdSSR schon der DDR gegeben hatte. Dennoch fragte Ulbricht jedes Mal nach mehr. Im wirtschaftlichen und militärischen Sinne war die DDR abhängig. Aber was wirklich hoch interessant ist, das ist Ulbrichts Arroganz. Diese Abhängigkeit führte nicht dazu, dass er sich politisch schwach fühlte. Dieser Ton, den er gegenüber Chruschtschow anschlug! Das ist wirklich überraschend.

Und er bekam weitere Trümpfe in die Hand: Die Krise in Ungarn, der zunehmend eigenständige Kurs Chinas spielten ihm in die Karten.

Ein Stück Berliner Mauer steht heute an der Königinstraße in München. Foto: Achim Manthey

Berija 1953, Ungarn 1956, China vor allem nach 1958: Das alles vergrößerte Ulbrichts Handlungsspielraum. Der Fall der DDR erschien Moskau als reale Möglichkeit, und mit China konnte Ulbricht über Bande spielen. Chruschtschow war oft frustriert. Breschnew war da anders; er hat sich mit Honecker abgesprochen, dass Ulbricht zu arrogant sei: Es ist genug; wir haben unser Militär dort, wir fällen die Entscheidungen. Und schon bald war Ulbricht gestürzt.

Im Grunde waren die UdSSR und die DDR schon in den 50er Jahren am Ende. Überraschte Sie die lange Lebensdauer der Regimes im Osten?

Nein, man kann sagen: In dieser Hinsicht hatte die Mauer ihre Wirkung. Da war Ulbricht realistischer als Chruschtschow.

Hat sich Chrusch­tschow mit seinem Ultimatum 1958 in eine Falle manövriert?

Ja. Er war so frustriert über Ulbricht. Nachdem er Ulbrichts Politik nicht hatte ändern können, kam er auf die Idee mit der freien Stadt, um den Westen raus aus Berlin zu manövrieren und zur Anerkennung der DDR zu bewegen. Ulbricht sagte ihm während der drei Jahre immer: Sie werden nicht erfolgreich sein, der Westen wird unser Gegner bleiben und keine Kompromisse schließen. Währenddessen nahm der Druck zu; im Osten herrschte Torschlusspanik, immer mehr Leute flohen.

Stand die Welt am Rande eines Krieges?

Beide Seiten wollten den Krieg nicht, bei allen Drohgebärden, vor allem bei Chruschtschow. Aber wie wir auch bei der Kubakrise sehen, neigte Präsident Kennedy eher zur Vorsicht. Die USA und die westlichen Verbündeten haben ja schließlich auch keinen Versuch gemacht, Mauer und Stacheldraht zu verhindern. Kennedy machte auch der Strom der Flüchtlinge aus dem Osten Sorgen. Er machte sich Gedanken, ob vielleicht Adenauer militärisch etwas unternehmen würde und die Nato dann mit hineingezogen werden könnte. In diesem Sinne war er erleichtert, das muss ich leider sagen. Er sagte zu seinen engsten Beratern: „A wall is a hell of a lot better than a war – Eine Mauer ist verdammt noch mal besser als ein Krieg.“ Und er hat gesehen, dass die Mauer defensiv war, eher gegen die Ostdeutschen gerichtet als gegen den Westen.

Sehen Sie noch Auswirkungen der Mauer?

Im Kopf ja. Aber weniger und weniger. Ich glaube, das wird in der nächsten Generation verschwunden sein.

Da Sie die Frage in Ihrem Buch ansprechen: Kann man die Mauer der USA gegen Mexiko und Israels gegen die Palästinenser mit der Berliner Mauer vergleichen?

Nicht ganz – nur in dem Sinn, dass auch diese Mauern langfristig nicht erfolgreich sein werden. Die Regierungen müssen miteinander reden und andere, tiefere Lösungen finden als eine Mauer. Nachbarn müssen miteinander sprechen. Chruschtschow wusste, dass die Mauer ein Zeichen des Versagens war. Und das ist eine Mauer bis heute: ein Zeichen des Scheiterns von Verhandlungen.

Hope M. Harrison ist Professorin für Geschichte und Internationale Beziehungen an der George Washington University in Washington, D.C.. Für ihr hervorragendes Buch „Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach“ sichtete sie die Akten in Berliner und Moskauer Archiven. Propyläen, 512 Seiten, 24,99 Euro.

Der Fall der Mauer 1989 in Bildern

Besser als ein Mauerbau ist zweifellos ihr Abbau. Die Berliner Mauer von 1961 wurde im November 1989 von den Deutschen buchstäblich überrannt - eine historisch einmalige Form von friedlicher Dekonstruktion einer militärischen Anlage. Somit ist letztendlich der Jahrestag des Mauerbaus auch ein Hinweis auf das glückliche Ende dieses Wahnsinns. Kulturvollzug-Redakteur Michael Grill war in jenen Tagen in Berlin. Hier eine Auswahl seiner Bilder, die erstmals öffentlich gezeigt werden. (gr.)

 

Veröffentlicht am: 12.08.2011

Über den Autor

Michael Weiser

Redakteur, Gründer

Michael Weiser (1966) ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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