Sasha Waltz mit "Dido und Aeneas" von Henry Purcell an der Staatsoper
Griffe nach Macht, Liebe - und ins Leere
Nach der Premiere im Jahr 2005 zeigte die Compagnie Sasha Waltz & Guests am 8. April ihre choreographische Oper „Dido & Aeneas“ zu der Komposition von Henry Purcell erstmals in München. Die musikalische Ausführung oblag der Akademie für Alte Musik Berlin und dem Vocalconsort Berlin, beide unter der Leitung von Christopher Moulds. Das Warten hatte sich gelohnt – das Publikum in der ausverkauften Staatsoper erlebte einen beeindruckenden, temperamentvollen Abend.
Schwimmende Tänzer sind vermutlich das erste, was Tanzinteressierten zu Sasha Waltz‘ „Dido & Aeneas“ einfällt, selbst wenn sie keine einzige Aufführung davon gesehen haben. Es gibt so viele Fotos und Videoausschnitte von diesem spektakulären Regieeinfall, dass es beinahe verwundert, welchen starken Eindruck das Bild der Schwimmer bei der tatsächlichen Aufführung hinterlässt. Diese Tänzer sind versunkene Gestalten, ihre Bewegungen unscharf und verlangsamt wie in einer fernen Erinnerung. Auch wenn wir noch nicht wissen, wer sie sind, ahnen wir schon, dass sie aus einer längst vergangenen Geschichte stammen, aus einer untergegangenen Stadt.
Diese alte Geschichte wird im Libretto von Nahum Tate (1652-1715) nahezu hastig erzählt. Von Vergils Überlieferung bleiben nur die wichtigsten Züge übrig: Im ersten Akt landet Aeneas am Strand von Karthago an und trifft auf Dido, Königin dortselbst. Beide verlieben sich plötzlich und heftig ineinander, doch bricht Dido damit ihren Eid, sich nie mehr mit einem Mann einzulassen. Im zweiten Akt wird Aeneas durch Hexenlist überzeugt, dass die Götter seine Abreise aus Karthago fordern, er gehorcht und lässt Dido zurück. Die Untröstliche stirbt im kurzen dritten Akt, gebrochen und verraten, nicht zu retten durch ihre hilflosen Karthager.
Sie wolle, erklärte Sasha Waltz in einem Interview, die Musik durch die Sprache des Tanzes ergänzen, „ohne dass eine die andere völlig dominiert“. Das begründet, weshalb alle Hauptrollen doppelt auf der Bühne stehen, als Sänger oder Sängerin sowie als Tänzer oder Tänzerin. Dido allerdings erscheint sogar dreifach: Aurore Ugolin bestreitet den Gesangspart, während Yael Schnell und Michal Mualam die Dido tanzen. Das ist der zweite ebenso einfache wie großartige Regieeinfall von Sasha Waltz. Wie könnte sie den Zwiespalt der Dido besser in ein Bild fassen als sie zweifach auftreten zu lassen? Diese Dido ist nicht kurzzeitig verunsichert oder unschlüssig, sie ist buchstäblich uneins mit sich, sobald sie dem Aeneas begegnet ist. Während Dido (Michal Mualam) und Aeneas sich im ersten gemeinsamen Tanz vereinen, ihre Gesten noch unvertraut, linkisch, doch voller Zärtlichkeit sind, steht Dido (Yael Schnell) allein weitab, halb entrückt, windet sich, ringt mit sich, als hielte sie mit Mühe ihr Innerstes zusammen. Weiter kann ein Mensch nicht von sich selbst entfernt sein als diese klarsichtige Liebende. „Fate forbids what you pursue“, versucht sie dem Gast zu erklären. „Aeneas has no fate but you!“, versichert er, der vom Fatum nichts wissen will, weil er es fürchtet. Auch wenn wir im nächsten Moment Zeugen der ausgelassensten Festlichkeiten am Hof werden, besteht kein Zweifel: Das wird nicht gut ausgehen.
Ein abrupter Donnerschlag – und aus dem Boden der leeren Bühne entsteigen die Hexen. Wie naturgemäß ihnen die Bosheit ist, machen die weitgehend nackten Körper der Tänzer und Choristen deutlich: Die kalte weiße Haut, die Knochen, die sich im fahlen Licht abzeichnen, wenn die Körper über den Boden rollen, zeigen die rohe, zügellose Lust am Unglück anderer: „Harm’s our delight and mischief all our skill.“ In Gestalt des Götterboten Merkur wird eine von ihnen Aeneas ermahnen, den Liebesfreuden zu entsagen. Noch in derselben Nacht soll er Karthago verlassen, er sei schließlich mit dem Aufbau einer Stadt beauftragt. „Tonight?“ fragt ungläubig Aeneas, doch wenn es Jupiter so will, dann muss er wohl fahren. Wie schwer ihm der Abschied dann doch wird, lässt der Gesang an dieser Stelle eher erkennen als der Tanz. Da bleiben die Gesten für Aeneas‘ verzweifelte Anklage an die unnachgiebigen Götter konventionell und darum vorhersehbar.
Also der Abschied. Im Verhältnis zur bisher rasanten Handlung zieht sich dieser Teil lange hin, obwohl die eigentliche Verkündung des Aufbruchs schon geschehen ist als der dritte Akt einsetzt. Dido ist zerstört. Trost und Beschwichtigung wehrt sie ab, sie schert sich nicht um Aeneas‘ Erklärungen von wegen Götter und so weiter. Ein Verräter ist er, ein Heuchler und ein Feigling. Wunderbar singt Aurore Ugolin die Dido: Unendlich traurig, zutiefst verletzt, aber noch in der Katastrophe bestimmt, klar und konsequent. Sie wird sterben und weiß es längst. Wahrhaft königlich! Aeneas‘ Angebot, auf die Karriere als Städtegründer doch zu verzichten und bei ihr zu bleiben, lehnt sie schroff ab: „Away, away! No, no, away!“ Was kann er da noch sagen? Er geht an Bord, seine Männer in einer Reihe hinter sich. Dido, auf der gegenüberliegenden Seite der Bühne, hat die Karthager hinter sich, zumal die Frauen.
Leider geschieht jetzt, was alle erwarten: Das Paar wendet sich einander doch noch einmal zu, sie strecken die Arme aus, aber die Distanz ist unüberwindbar, ihre Hände greifen nichts, die Gesten sind nur der Ausdruck ihrer Sehnsucht. Das Bild erschließt sich gar so leicht und wird langweilig, als sich die Griffe ins Leere noch und noch wiederholen. Die Tanzsprache von Sasha Waltz ist zuweilen wunderbar einfach und ungekünstelt, zuweilen aber auch – wie hier – ein wenig simpel. Indem sie die nächstliegenden Pathosformeln benutzt, um die Gefühle der Figuren direkt zu illustrieren, nimmt sie dem Tanz die Eigenständigkeit, die er gegenüber der Musik bekommen sollte. An manchen Stellen wiederum stehen längere Solotanzpassagen ohne Musik, deren Relevanz für die Handlung nicht erkennbar ist. Weil Chor und Orchester stumm sind, steht der Tanz zwangsläufig im Vordergrund, aber die mal artifiziellen, mal zu oft zitierten Bewegungssequenzen fügen sich nicht in die Geschichte und hängen etwas belanglos zwischen den aussagekräftigen Szenen.
In keiner Minute belanglos ist die Musik, vor allem dank der beherzten Ausführung durch die Akademie für Alte Musik, die Purcells nicht durchweg aufregende Komposition so inspiriert wie nur möglich darbot. Und natürlich dank der engagierten Interpretation der Chorpartien durch das Vocalconsort Berlin. Die Sänger sind zum größten Teil mit auf der Bühne und mischen sich unter die Tänzer. Das bringt viel Bewegung in die Aufführung und verhindert, dass Tanz und Gesang unverbunden nebeneinander stattfinden. Leider geht dadurch auch der Kontrast zwischen dem pointierten Text des Librettos und der ausgedehnten, oft üppigen Choreographie öfter verloren, weil man den Text – so homogen der Gesang auch ist – schlicht nicht versteht. So wäre uns fast die Moral von der Geschichte entgangen: „Great minds against themselves conspire / And shun the cure they most desire.“