Thomas Vasek im Gespräch mit Rebekka Reinhard im Salon Luitpold
Du sollst nicht lügen! Warum eigentlich nicht?
Wenn der Mörder an die Tür klopft, muss man ihm öffnen? (Hier zu sehen ist ein Detail aus einer sehr philosophiearmen Zeit aus der Sammlung der wunderbaren fränkischen Burg Pottenstein.) Foto: Michael Grill
Ausgerechnet am 1. April präsentierte der Salon Luitpold einen philosophischen Gesprächsabend über den moralischen Wert der Lüge. Eingeladen waren Rebekka Reinhard, Philosophin, und Thomas Vašek, Chefredakteur des Philosophiemagazins Hohe Luft.
„Wer lügt, verstößt gegen das moralische Gesetz, das ist bei Immanuel Kant der Kategorische Imperativ, und demnach dürfte man nicht einmal dann lügen, wenn ein Mörder an die Tür klopft und fragt, ob sich Der-und-der im Haus aufhält. Den müsste man dem Mörder ausliefern.“ „Aber wenn ich mal an diese schreckliche Frage ‚Wie geht es dir?‘ denke, darauf muss ich doch eigentlich lügen.“ „Bei Kant nicht, Kant erlaubt vom Lügenverbot keine Ausnahme.“ „Aber wenn man mal an ein Kind denkt, das ans Christkind glaubt, das verlangt doch geradezu, dass man es belügen soll.“
Mit diesen Blüten der philosophischen Disputationsrhetorik befinden wir uns nicht etwa im gepflegten Vorgeplänkel unter Tischnachbarn im voll besetzten Salon, sondern mitten im Gespräch der Philosophen.
Und dabei hatte es gut angefangen! Die Veranstalterin eröffnete den Abend mit einem launigen Bonmot, die Philosophin stellte die obligatorische erste Frage jedes philosophischen Gesprächs, „Was verstehen wir eigentlich unter einer Lüge?“, der so Befragte zitierte Bernard Williams und ließ damit auf eine erhellende Diskussion hoffen. Leider war es das schon mit Williams. Von jetzt an werden Versatzstücke aus dem Kanon der abendländischen Philosophie aufgesagt (hauptsächlich Kant, ferner Augustinus, Harry G. Frankfurt, Montaigne, Nietzsche, Wittgenstein), aus der Literatur muss Leo Tolstoi herhalten, aus der Medizin kommt Gian Domenico Borasio zu Hilfe. Auf dem Höhepunkt des Zitate-Pingpongs weist Rebekka Reinhard darauf hin, dass Dietrich Bonhoeffer den Wert der Lüge für den sozialen Zusammenhalt betont habe, weil viele Menschen ja Angst vor der Wahrheit hätten. Thomas Vašek zieht als Antwort Ingeborg Bachmann aus dem Hut, wonach die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist. „Die Lüge aber auch“, kokettiert Frau Reinhard. „Find i net“, knurrt Herr Vašek.
Das Publikum schaut gebannt auf die Disputanten, das vereinzelte Flüstern ist verstummt, selbst der Kellner hält inne bei der Auslieferung von Weißwein und Pralinenétagèren. Fürwahr, es ist zum Staunen, wie wenig die Philosophie bedarf! Ein Dutzend kontextloser, zu Sinnsprüchen simplifizierter Sätze, ein paar Hauruck-Definitionen von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Lüge und Täuschung, eine Handvoll Beispiele aus der näheren oder ferneren Lebenswelt. Nur fragt man sich, wofür die Beispiele eigentlich Beispiele sind und wofür beziehungsweise wogegen die Zitate sprechen sollen, denn eine einigermaßen durchdachte philosophische Position ist nirgends zu entdecken. Jeder Versuch von Thomas Vašek, das Geplauder aus den Gefilden der Trivialität auf annähernd philosophische Höhe zu heben, wird von Rebekka Reinhard entweder verkannt oder umgangen. Sie laviert von Zitat zu Zitat, betont mehrfach, dass das Zuhören viel wichtiger sei als moralische Gebote, zumal so rigorose wie Kants. Leider verpassen beide die Gelegenheit, auf die idealistische Anlage der Kantischen Philosophie hinzuweisen. Die könnte erklären, warum Kant ein so rigoroses Lügenverbot vertreten kann und warum es uns heutzutage partout nicht einleuchten will. Stattdessen beklagt die Philosophin, dass Herr Vašek immer solche „Keulenargumente“ wie Kants Mörderbeispiel anbringe.
Da kommen wir lieber auf die Sache mit dem Christkind zurück und von da aus auf Frau Reinhards Ansicht, man könne von reifen, mündigen Menschen erwarten, dass sie nicht alles glauben. Man müsse damit rechnen, belogen zu werden; man solle eben seinen Verstand dazu gebrauchen, selbst zu entscheiden, was man glaubt und was nicht. Soll das eine Anwendung von Kants Aufklärungsparole gegen sein eigenes Lügenverbot sein? Wir erfahren es nicht, denn die Begründung der kühnen These entfällt. Stattdessen kommt Vašek aus der Reserve: „Dann ist also der Belogene selbst schuld, weil der auch noch so blöd ist, dem anderen zu glauben?!“ Und da endlich bietet er etwas an, das nach Philosophie klingt, nämlich den Einwand, dass der Lügner die Autonomie des Belogenen beschneidet, dass er seine Macht über ihn ausnutzt und seine Überzeugungen, sein Bild von der Wirklichkeit manipuliert. Ob Frau Reinhard etwa Freundschaften als eine Art Poker verstehen wolle, wenn man immer davon ausgehen soll, dass der andere lügt? Das sei ihr zu spitzfindig, erklärt Frau Reinhard und wechselt das Thema. Im weiteren Verlauf versucht es Herr Vašek noch gelegentlich mit dem Autonomie-Argument gegen das Lügen, Frau Reinhard entfährt ein Seufzer über die allfällige Lüge der Selbstvermarktung, Herr Vašek umreißt das Phänomen des Bullshits und endet schließlich mit der dringenden Empfehlung an das Publikum, Tolstois „Tod des Iwan Iljitsch“ zu lesen.
Das möchten wir ergänzen um die gleichfalls dringende Empfehlung, Bernard Williams‘ „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ zu lesen, insbesondere Kapitel 5. Es handelt davon, dass wir anderen Menschen normalerweise die Wahrheit schulden, weil das bedeutet, sie ernst zu nehmen.