"Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus im Café Ringelnatz
Von Fleischfliegen und Hauptdefaitisten
Auf letzte Tage der Menschheit zu setzen, ist nie verkehrt, zumal in diesem Jahr, 100 Jahre nach dem Beginn des ersten Weltkriegs, das allein schon aus Gründen der Feierlichkeit. Aber Karl Kraus´ monumentales, nach eigener Aussage unspielbares Stück „Die letzten Tage der Menschheit“, ist viel mehr als eine wohlfeil passende Pazifismusgeste in diesen Tagen, da sich das Unbehagen in der Kultur wiederum in den quälend gleichen Emanationen der Stupidität Bahn bricht, entblödet. Es ist vor allem und zunächst der heroische Kampf des Sprachpuristen, des Publizisten gegen die Lügen der Journaille, gegen den Krieg der Worte. Jo Vossenkuhl und seine Vorleser Sabine und Christof Wackernagel und Henk Flemming wurden mit einem Bruchstück aus fünf Akten, in denen Kraus fünf Kriegsjahren folgte, dem Monument gerecht. Eine immer noch fast zweistündige Lesung, im Schwabinger Café Ringelnatz.
Im satirischen Sperrfeuer von 220 Szenen mit 500 Personen überleben im Kopf des Zuhörers am ehesten die Figuren mit dem prägnanten, geliebt-belächelten Tonfall. Schneidig flach, schnarrendes, schneidendes Papier, die preußischen Offiziere, ewig wunderbar die Grandezza der Verblödung auf der `kakanischen´ Seite. Christof Wackernagel, mit schlagflüssigem Majors-Monokelblick, von lebhafter Deppertheit, preussischer wie österreichischer, Jo Vossenkuhl beflissen weinerlich, sich windend, den imaginären Bratensaft um den Mund herum wischend, exkulpierend. Prachtvoll, Baron und Graf.
„Du bist ein Hauptdefaitist, hör auf! In welcher Zwangslage wir waren, hast du schon vergessen, dass wir soit disant gezwungen waren zum Losschlagen…hast die Einkreisung vergessen?“ Die Majestäten selbst? Franz Joseph sabbelt im kaiserlichen Schlaf von verschobenen Uhrzeiten und Unterschriften und Wilhelm II. ist im Gespräch mit dem bayrischen Dichter Ganghofer, der ein Gedicht auf die eiserne Jungfrau gemacht. Der Tod ist eine schwere Geburt, so wie meine eigene, mag dem Kaiser in den Kopf kommen, sein linker Arm schmerzt. Sei´s drum, der Tag der Rehabilitierung im gestreckten Hitlergruß wird kommen. Nörgler (Kraus´ Alter Ego) und Optimist, Patriot und Abonnent, viele Beamte („im Schalter erscheint das österreichische Gesicht“), der Realitätenbesitzer, der Dlauhobetzky von Dlaubohetz und der Tibetanzl. Henk Flemming geifert heiser Todesraten und Sterbereihen aus wissenschaftlicher Sicht, jodelt und bellt als von Dreckwitz. Sabine Wackernagel meistert die Mutter aller Schlachtreporter: Alice Schalek. Dieser Lügnerin hat Kraus wirklich ein Schandmal gesetzt.
Schillernde Figuren. Virtuos, aberwitzig, verlockend und abstoßend. Schillernde Fleischfliegen auf einem Stück verwesenden Fleischs. Doch auch ganz Leises wird entdeckt. Tiefste menschliche Armut, einem das Mitleid aus dem Herz reißend. Gegen Ende liest Sabine Wackernackel mit ungarischem Akzent den Brief einer Frau an ihren tot geglaubten Gatten. Sie ist in eine Hoffnung geraten, aufgrund eines Fehltritts mit einem anderen, weil sie dachte, dass ihr „Inigsgeliebter Gatte“ eben schon tot sei. „Lieber Franz, vielleicht stirbt das Kind und dann ist alles wieder gut.“ Der andere Kraus, jenseits der Satire, lakonisch, erschlagen von der eigenen Schärfe, kniet blind am Abgrund. Am Ende, ein Dichter. „Was sagst zu den Gerüchten? Ich kenne sie nicht, aber ich glaube ihnen.“