Anna Winde-Hertling ist "Kassettenmädchen" im Pathos Transport

Auf der Suche nach der verlorenen analogen Zeit

von Michael Wüst

Am I Pretty? Anna Winde-Hertling. Foto: Michael Wüst

Im fluffigen Chaos eines Puffy-Teenie-Zimmers mit annähernd 99 Luftballons, 1000 Kassetten, gegen unendlich gehenden Haargummis, gebeamter Orange-Couch, nebst leergetrunkenen Augustinerkästen, spielt, tanzt, hadert mit fettem Arsch, saugt Staub, findet sich kurz sexy, dann wieder nicht, hat Liebeskummer und trinkt Wodka bei einem Strippoker mit einer Alfpuppe: „Das Kassettenmädchen“. Anna Winde-Hertling hechelt sich im Pathos Transport an der Dachauer Straße in einem Solo durch musikalische Sozialisationen von der Pubertät bis zur Weltreise der Ratlosigkeit.

Gewissermaßen auf der Suche nach der verlorenen analogen Zeit. Schon vorher mag man bei einem Neben-Video-Schauplatz das Ende vorausgeahnt haben: Da sitzt ein jung-blonder Endverbraucher in einem schicken Clubsessel und wird vom Wagnerschen Walkürenritt digital fast aus den Klamotten geblasen.

Anne Winde-Hertling, auf der Bühne Jahrgang 1974, selbst durch den Abend führendes Mädchen mit langer Adoleszenzphase, führt in Schlaglichtern durch die Teeniegeschichten der Popjahrzehnte. Die zeitgeschichtliche Folie, worauf sie die Sehnsuchtswelten ihrer „Schicksale“ projiziert, ist stets knapp erzählt. Im eigenen Fall ist das: der Kalte Krieg, das Oktoberfestattentat, Aids, das Ozonloch, Darth Vader, Helmut Kohl und das Grips-Theater. Dazu hängt ein Bild von Erich Honecker an der Videowand, dessen Brille sie an die ihres Vaters, respektive die Horst Ludwig Meyers aus der dritten RAF-Generation erinnert.

Sie wirbelt und hopst mit und ohne Staubsauger in verschiedenen Outfits zu „Walking on Sunshine“ oder „Wer sagt, dass Mädchen dümmer sind“. Darauf folgt aufgeregt eingesprungener Kassettenwechsel zu Emmet Brown aus „Zurück in die Zukunft“ mit finalem Hinschmelzen bei „Time of my Life“. Ein filmisch charmantes Feuerwerk voll berührender Naivität. Und komisch. Ein Strip-Versuch endet in Verrenkungen, sie verklemmt sich im Gestänge des Stuhls und muss schnell abbrechen, kicher, und sexy war´s doch.

Die Darstellung der folgenden Popdekaden folgt dem gleichen Muster. Mal in Frankfurt, mal mit dem Hausschlüssel um den Hals am Hasenbergl. Da muss Teenie öfter Papis Kassettenmix ertragen, der aus Laid Back, Nikita, Elton John und zu schlechter Letzt auch noch aus Dire Straits besteht. OMG! Unter Honeckers Bild hängt Papis Anorak. Oder ist es der Honeckers! Oder der von Horst Ludwig Meyer aus der dritten RAF-Generation? Egal, ein Tänzchen zu Lionel Ritchie geht auch mit einem Anorak als Liebesobjekt. Mit Thomas, einem Skater-Vollpfosten verliert ein weiteres Hippie-Mädchen seine Unschuld, besser gesagt wird endlich ihre Jungfräulichkeit los. Man gibt sich erwachsen und ist betrunken mit Danzig und Bad Religion. Und hat schnell den Liebeskummer, möchte unter Walnussbäumen sterben, den vergifteten, nach Tschernobyl. Since you be gone, I hear you crying. Mit Curt Cobain und Diana-Dodi-Schmerz dudelt Kassettenmädchen dahin und hört kaum mehr das Krachen der Einschläge im World Trade Center, die Wiederwahl von Schröder, löst kaum ein Arschrunzeln aus.

Kassettenmädchen trinkt noch einmal mit der Alfpuppe. Dann kommt sie als Bärenmarkebär zurück, ganz ohne den naiven Schwung: Es geht nach Guatemala oder Thailand. Selbsterfahrung nach so viel süßer Schicksalslosigkeit tut Not.

Weitere Vorstellungen: 27. und 28. September 2014, Dachauer Straße 110.

Veröffentlicht am: 26.09.2014

Über den Autor

Michael Wüst

Redakteur

Michael Wüst ist seit 2010 beim Kulturvollzug.

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