Vor 60 Jahren startete der moderne Bahntourismus
Hotel und Tanz auf Schienen - die Mutationen eines Transportmittels
Zuerst sattelten die deutschen Urlauber – dank Wirtschaftswunder - aufs eigene Automobil um und fühlten sich richtig frei. Dann waren es die zunächst noch mit Propellern motorisierten, doch schon bald düsengetriebenen Charterflugzeuge, die ein messbares Quantum von Ferienreisenden der Deutschen Bundesbahn entzogen. Ungefähr zeitgleich wurde sie von immer dicker werdenden Kreuzfahrtschiffen nicht gerade gerammt, aber doch bedrängt. Und schließlich, seit jüngster Zeit, schnappen sich rasch vermehrende Fernbusse einen immer größeren Anteil von Reisenden.
Durch laufende Verbesserung und Verbreiterung ihrer Leistungspalette bei angemessenen Tarifen hat das inzwischen zur Deutschen Bahn AG vergrößerte Staatsunternehmen mehr oder weniger erfolgreich versucht, nicht abgehängt zu werden im großen Geschäft mit dem Tourismus, sondern möglichst dessen Lokomotive zu bleiben. Vor 60 Jahren hatte dieser neue Schienentourismus begonnen. Ein Blick zurück zeigt, dass es seither Ideen und Bemühungen gab, die sich gegenüber heutigem Standard und Service durchaus nicht verstecken müssen.
Das Reisejahr 1964 endete mit einer Rekordbilanz: 470.000 Personen waren mit einem Schlafwagen der Bundesbahn in die Ferien gefahren, jeder Zweite zog die preiswerte Dritte Klasse vor, die damals noch nicht ausrangiert, aber längst gepolstert war. Allein die Touropa, der in München ansässige Marktführer für Pauschalreisen, beförderte 300.000 Menschen (später „Paxe“ genannt) mit 80 Sonderzügen in die verlockendsten Urlaubsorte zwischen Nordsee und Gardasee.
Zeit für einen Neustart der Bundesbahn. „Der Schlafwagen soll zum rollenden Hotel werden“, verkündete deren Präsident Professor Dr. Erich Frohne auf einer Fachtagung in München. Dabei müssten die Preise gehalten werden. Denn die Bahn trete mit Auto und Flugzeug in Konkurrenz. „Die zahlungskräftigen Kunden, die dorthin abgewandert sind“, ermunterte Frohne sein Personal, „sollen von der Eisenbahn wieder angezogen werden, und gleichzeitig sollen neue Kunden gewonnen werden.“
Auf Initiative des legendären Touropa-Gründers Dr. Carl Degener, der schon 1953 bombengeschädigte Holzklassewagen zu behaglicheren, schlaraffia-gepolsterte Waggons umgestalten ließ, und nicht ohne finanzielle Beteiligung dieses privaten Großveranstalters, baute die Bahn jetzt Abteile, deren Sitze abends vom Schaffner in sechs Schaumgummibetten umgewandelt werden konnten. Den Fahrgästen standen drei Waschräume mit angewärmtem Wasser und einem elektrischen Rasierer zur Verfügung. Sie konnten sich sogar das Frühstück vom Schaffner ans Bett bringen lassen. Jedes Bett hatte eine Leselampe. Liegewagen - so nannte man die neumodische Transporteinheit.
Aus jeweils acht 24,6 Meter langen Waggons, den längsten Schnellzug-Wagen der Welt, wurde jeweils ein „Ferien-Express“ zusammengestellt. Der bot allerhand Luxus. Jedes Abteil hatte einen abschaltbaren Lautsprecher, jeder zweite Wagen ein Proviant-Abteil. Erstmals wurde sogar ein Friseur- und Kosmetiksalon auf Räder gestellt (doch bald wieder eingestellt). Mit der Klimatisierung haperte es allerdings noch. Am 22. Mai 1955 wurden die ersten dieser Wagen in zwei D-Zügen auf den Strecken München-Köln und München-Dortmund eingesetzt. Die Extrakarte für den Liegewagen kostete nur knapp die Hälfte des Schlafwagenpreises 3. Klasse, nämlich fünf Deutsche Mark.
Unter dem Konkurrenzdruck richtig wach geworden, hatte die Bahn bei der Münchner Weichenstellung noch weitere kundenfreundliche Kunde. Das umständliche Rangieren, das Ein- und Ausladen von Express und Postgut wurde abgeschafft. Damit sollte nicht nur Zeit gespart, sondern auch die Belästigung der Reisenden durch Ruß und Schmutz verhindert werden. Man sollte sich auch nicht mehr um Gepäck und Garderobe sorgen müssen. Und an den streng bewachten Grenzen nicht mehr aus dem Schlaf gerissen werden.
An den Schlafwagenzug „Komet“ wurde dann ein Autotransportwagen angehängt. 1956 fuhr der erste geschlossene Autoreisezug von München über Düsseldorf nach Ostende. 1960 gelangten bereits über zehntausend Privatautos auf der Schiene ans Ziel. Ab Sommer 1963 brachten die neue „Vogelfluglinie“ via Ostsee, und die Elektrifizierung der norddeutschen Hauptstrecken die Reisenden noch schneller in die Hauptferiengebiete. Zwischen dem Ruhrgebiet und Athen wurde ein „Hellas-Express“ für Touristen und Gastarbeiter in Fahrt gebracht.
Als trotzdem der Anteil der Bahnreisen im Jahr 1964 um zehn Prozent zurückging, denn jetzt waren die Bundesdeutschen nach dem Diktum der Marktforscher gänzlich „air minded“ geworden, versuchten Bahnwerber und Veranstalter umgehend durch ein weiteres Plus an Bequemlichkeit zu locken. Nunmehr wurden die Mahlzeiten von hübsch livrierten Pagen auf Tabletts mit Vakuumverschluss ins Abteil der Ferienzüge getragen. Und statt mit unhygienischen Wolldecken konnte man sich mit eigens entwickelten Wegwerf-Laken aus Papiermasse zudecken.
Auch das Tempo wurde enorm gesteigert. Bahnchef Oeftering nannte es in drei Sprachen ein „historisches Ereignis in der Geschichte der Eisenbahnen“, als er am 25. Juni 1965 das Abfahrtssignal für den bisher schnellsten fahrplanmäßigen Zug Europas gab. Der Prototyp der neuen Elektrolok E 03 zog zunächst sieben Wagen von München nach Augsburg. Bei Kilometer 10,7 erlebten die mitfahrenden Journalisten, wie die Tachonadel erstmals auf die Marke 200 kletterte. Als zufällig ein Flugzeug in niederer Höhe auftauchte, verkündete der Zuglautsprecher: „Die Geschwindigkeit wird kurz auf 220 erhöht.“ Der Wettlauf begann. (Nur in Japan gab es schon in den 1960er-Jahren einen noch schnelleren Reisezug, den Shinkansen, während in Frankreich noch mit dem TGV experimentiert wurde. Das 200-km/h-Limit war allerdings schon Jahrzehnte vorher von deutschen Lokomotiven und Triebwagen durchbrochen worden; seit 2006 erreichten serienmäßige Züge in mehreren Ländern über 400 Stundenkilometer).
Die Beliebtheit der Züge im Urlaubsverkehr wurde außerdem gesteigert durch einen Tanzwagen namens „Edelweiß“ (heute rollen ganze Tanzzüge mit 400 Plätzen und mehreren Diskos durch Deutschland) sowie durch einen „Gläsernen Zug“: Dieser verkehrte außergewöhnlich geräuscharm von München aus bis ins Zillertal und nach Kärnten. Er bot durch seine das ganze Dach überspannende Panoramafenster ungestörte Sicht auf die Gipfel der Berge. Am 12. Dezember 1995 stieß das historische Fahrzeug in Garmisch-Partenkirchen mit einem Regionalzug zusammen, weil der Zugführer beim Kaffeekochen das Abfahrtssignal missachtete. Dabei wurden ein Fahrgast getötet und 41Menschen in beiden Zügen verletzt. Der fahruntüchtige Triebwagen ist seit 2005 im Bahnpark Augsburg zu bestaunen - oder man muss mit dem olympiablau lackierten Mini-Modell Vorlieb nehmen.
Aus einem unveröffentlichten Buchfragment von Karl Stankiewitz mit dem Arbeitstitel “Die Lust ist ungebrochen. Wie die Deutschen zu Reiseweltmeistern wurden”.