Anfänge zum Atomstaat Bayern
Wissenschaft und Widerstand
Am 23. Januar 1985 beschloss die Kohl-Regierung in Bonn, der vier CSU-Minister angehörten, die Errichtung einer Wiederaufbereitungsanlage für verbrauchte Brennstoffe der Kerntechnik. Schon wenige Tage später formierte sich rund um das Braunkohlestädtchen Wackersdorf in der Oberpfalz, das die bayerische Staatsregierung als Standort einer solchen WAA angeboten hatte, auf breiter Front der Widerstand gegen den von vielen befürchteten "Atomstaat". Er eskalierte zu politischen Kontroversen, nicht nur im eigenen Land, sondern auch mit dem benachbarten Österreich und zeitweise zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, bis die beteiligte Wirtschaft im April 1989 das super-teure Super-Projekt fallen ließ.
Doch nicht erst mit dem vor 30 Jahren begonnenen Bau einer Plutoniumfabrik, die atomwaffentaugliches Material hätte produzieren können, sondern schon vor nunmehr 50 Jahren war es dem Freistaat Bayern beinahe gelungen, "an der Spitze des Fortschritts zu marschieren" - wie Franz Josef Strauß einmal das konservative Element seiner Partei kühn definiert hatte. Damals bereits, Anfang 1965, war im Raum München erstmals ein "Kalter Atomkrieg" ausgebrochen.
Hardliner für den "Fortschritt": Alfons Goppel, Gerold Tandler und Franz Josef Strauß. Foto: Thomas Stankiewicz
Nicht etwa aus eigenem Antrieb, sondern provoziert durch Gerüchte, die sich in Anfragen von Abgeordneten und im Leitartikel einer Münchner Zeitung niederschlugen, gab CSU-Ministerpräsident Alfons Goppel am 1. Februar im Landtag ein Staatsgeheimnis bekannt: Bayern wolle sich bei der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) in Brüssel um den geplanten Protonen-Großbeschleuniger bewerben. Drei Standorte bot Goppel für dieses leistungsfähigste Atomforschungszentrum der Welt zur Auswahl an. Das Bundesforschungsministerium unterstützte das Angebot.
Unter den drei Angeboten fand die Europäische Organisation für Kernforschung (CERN) in Genf, die diese Großanlage innerhalb der folgenden acht Jahre mit dem astronomischen Finanzbedarf von 1,5 Milliarden Mark errichten wollte, den Ebersberger Forst als Standort besonders geeignet. Das 90 Quadratkilometer große Gehölz im Osten von München, das als größte Mittellage-Waldung Europas gilt, stand allerdings seit langem unter Landschaftsschutz und war obendrein die wichtigste "grüne Lunge" für die Millionenstadt München.
Den Ausschlag für die Entscheidung der Staatsregierung gaben Nobelpreisträger Werner Heisenberg, Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik in München-Freimann, und Professor Max Kneißl, Direktor der Technischen Hochschule München. Heisenbergs Institut unterhielt in Garching große Anlagen für Plasmaphysik, wo auch erste Versuche zur gesteuerten Kernverschmelzung begonnen hatten (sie laufen heute immer noch, weltweit, ohne terminierte Erfolgsaussicht). Die Münchner TH hatte in Garching ebenfalls kerntechnische und physikalische Labors, hier arbeitete auch der aus Amerika heimgeholte Nobelpreisträger Rudolf Mößbauer.
In allen diesen Anlagen wurden sehr hohe Energien benötigt, wie sie nur von Synchrotronen (Teilchenbeschleunigern) erzeugt werden. Das CERN-Projekt war auf 300 Milliarden Elektrovolt abgestellt. Die bis dahin größte Beschleunigungsanlage, die in den USA arbeitete, erreichte gerade mal ein Zehntel dieser Leistung. Als „bedeutenden Gewinn für die gesamte deutsche physikalische Forschung“ bezeichnete denn auch Professor Fritz Bopp, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, das neue europäische Atomforschungszentrum – falls es nach Bayern käme.
Doch kaum war das Geheimnis geplatzt, setzte in und um München ein Sturm der Entrüstung ein. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, als junger Sozialdemokrat dem Fortschritt gewiss nicht abgeneigt, meldete erste Bedenken an: Der Wald müsse als Erholungsgelände für die Großstadtbevölkerung erhalten bleiben. Ebersbergs Landrat Streibl kündigte an, der Landkreis wolle sich "mit allen Mitteln wehren". Sein Naturschutzreferent Sponholz rief zur ersten Protestversammlung, sammelte auf Anhieb 3000 Unterschriften und kündigte einen "Marsch nach München" an. Bauernverbandspräsident Otto von Feury, ein Parteifreund des Regierungschefs, sowie die CSU-Fraktion der Kreisstadt Ebersberg schlugen sich ins gegnerische Lager.
Ministerpräsident Goppel dagegen ließ im Rundfunk verlauten, die Staatsregierung verkenne zwar nicht den Erholungswert des Ebersberger Forstes. Doch wenn Bayern, um einen Waldgürtel zu schonen, diese einmalige Chance ausschlage, würde das zu Recht als engstirniges Versäumnis angekreidet werden. Überdies hätten ihm Professoren versichert, dass das Gelände später im wesentlichen wieder forstlich genutzt werden könne. Das Großsynchrotron sollte nämlich größtenteils unterirdisch angelegt und außerdem mit einem Erdwall umgeben werden, um jedes Entweichen einer Strahlung zu vermeiden.
Der für die Staatsforste verantwortliche Minister Alois Hundhammer bekannte sich im Landtag klar zur Ebersberger Lösung. Man könne doch "einen Nobelpreisträger nicht irgendwo draußen auf dem Land ansiedeln". Auch ein SPD-Sprecher stimmte dem Projekt zu, während die Meinungen in der CSU-Fraktion lebhaft auseinander gingen. Die durch den Prozess um einen Spielbankenskandal arg gebeutelte Bayernpartei witterte Morgenluft und nutzte die Volksstimmung, um 26 000 Unterschriften für ein "Waldsicherungsgesetz" zu sammeln; es folgte der Antrag für ein erstes bayerisches Volksbegehren, welches aber der Verfassungsgerichtshof für unzulässig erklärte.
Wirtschaftsminister Otto Schedl, der sich schon am Bodensee im Streit zwischen Ölindustrie und Wasserschutz auf die Seite des Fortschritts geschlagen hatte, beschwichtigte die Bevölkerung: Für sie bestehe keinerlei Gefahr, "nicht einmal im Falle eines Krieges". Dazu der beamtete Naturschützer Sponholz: "Der Regierung fehlt es offenbar an biologischem Denken." Die Wälder im Bereich einer Großstadt seien nicht nur zur Erholung außerordentlich wichtig, sondern vor allem für die Reinhaltung der Luft, für das Grundwasser und das Klima. Rund ein Viertel des Ebersberger Forstes, so hörte man gerüchtweise, werde von der Atomforschungsanlage - zunächst - beansprucht.
Letztendlich doch keine bayrische Angelegenheit: das Großforschungszentrum CERN bei Meyrin im Schweizer Kanton Genf. Foto: Brücke-Osteuropa via Wikimedia Creative Commons
Jedoch: Die ganze Aufregung war umsonst. Außer dem Antrag aus Bayern lagen den europäischen Behörden nämlich noch Angebote aus Großbritannien, Frankreich und Italien vor. Auch diese Länder wollten den rund 2000 Forschern, die an dem künftigen Teilchenbeschleuniger arbeiten sollten, schönste Landschaften zur Verfügung stellen. Zur Auswahl standen auch St. Tropez und Cortina d’Ampezzo. Die Entscheidung fiel schließlich zu Gunsten von Meyrin nahe dem Genfer See.
Zur gleichen Zeit geschah es, dass eine von Bayerns Regierung eingesetzte, vom früheren Arbeitsminister Richard Oechsle (SPD) geleitete Kommission, die einen Standort für den dringend benötigten neuen Münchner Großflughafen finden sollte, einen weiteren Staatswald, den Forstenrieder Park, unter zwanzig Möglichkeiten zur Diskussion stellte, wenn auch noch nicht zur Disposition. Und wieder brach ein Proteststurm los. Parteiführer Strauß indes, der aus dem Agrarland Bayern den "modernsten Staat Europas" machen wollte, stellte ungerührt fest: "Irgendwo wird die Bevölkerung in den sauren Apfel beißen müssen."