Vor 30 Jahren begann der Widerstand gegen das Projekt WAA in der Oberpfalz
Menschenjagd im "Wackerland"
Bei eisigem Böhmwind versammelten sich am 16. Februar 1985 auf dem Marktplatz der kleinen Kreisstadt Schwandorf mehr als 35.000 Demonstranten, sehr viel mehr als erwartet. „Die Oberpfalz wird permanenter Schauplatz des größten friedlichen Widerstandes, den dieses Land je erlebt hat“, verkündete Hubert Weinzierl. Der Vorsitzende des Bundes für Umwelt- und Naturschutz in Deutschland (BUND) sollte Recht behalten. Die Auseinandersetzungen, die an jenem Wochenende vor 30 Jahren begonnen hatten, dauerten vier Jahre und drei Monate. Sie eskalierten zeitweise zu einem blutigen Beinahe-Bürgerkrieg. Sie forderten die von der CSU getragene Staatsmacht ungewohnt massiv heraus und zwangen sie schließlich, ihr Prestige-Projekt der Großtechnik, die WAA, aufzugeben.
Schon der Auftakt verlief nicht ganz so friedlich wie angekündigt. 250 Frauen und Männer wollten erst mal ein „Freundschaftshaus“ errichten. Auf dem 300 Hektar großen Waldgelände bei Wackersdorf sollte, nach Beschluss der Bonner Kohl-Regierung und der Münchner Strauß-Regierung, bis 1995 eine nationale Wiederaufarbeitungsanlage für nukleare Brennstäbe (WAA) samt Lager für den deutschen Atommüll entstehen. Der Versuch endete mit 20 Festnahmen. Aus der lokalen Demo aber wurde ein „bundesweiter Konflikt“, wie Weinzierl sagte und begründete: Diese in ihrer Art weltweit größte Anlage ihrer Art bedrohe den Weltfrieden, weil sie beim Aufbereiten von verbrauchtem Uran das für Atomwaffen taugliche Plutonium erzeuge - noch dazu in technischem Neuland und politischem Grenzland.
Der Krieg von Wackersdorf verlagerte sich denn auch zunächst an die politische Front. Bei einem Hearing im Landtag am 23. April zogen Fachleute die Eignung des Bauplatzes in Zweifel. SPD, Grüne, Naturschutzbund und 28.465 Bürger, die ein Volksbegehren beantragten, wünschten im Biotop der Bodenwöhrer Senke einen Nationalpark statt einer Atomfabrik. Eine von der Opposition geforderte Untersuchungskommission scheiterte an der Mehrheit der CSU. Deren Abgeordneter Erwin Huber wies alle Bedenken als „hemmungsloser Hetze gegen die Kernenergie“ zurück. Für den Landes- und Parteichef Franz Josef Strauß, der schon den Rhein-Main-Donau-Kanal gegen heftigen Widerstand von Opposition und Naturschutz durchgeboxt hatte, war die WAA sowieso Chefsache und „nicht gefährlicher als eine Fahrradspeichenfabrik“.
Am 11. November 1985 begannen die Rodungen für das auf 5,2 Milliarden Mark hochgerechnete Super-Projekt. Während schwere schwedische Spezialmaschinen bei anhaltenden Protesten am Ort und in einigen Städten im staatseigenen Taxöldener Forst die „durchschnittliche bayerische Landschaft“ (Umweltminister Alfred Dick) aufwühlten, wurden Spezialeinheiten der Polizei in Regensburg in Alarmstufe 1 versetzt. Nicht weniger als 3700 Polizisten räumten das „Hüttendorf“ und nahmen 869 WAA-Gegner fest, die hier Weihnachten feiern wollten. Sogleich machten sich andere Anhänger der Bürgerinitiative Schwandorf, der auch Pfarrer, Richter und Bauern angehörten, an die Gründung einer „Freien Republik Wackerland“ mit 158 Hütten, Zelten und Baumhäusern. Der „kreative Widerstand“ sollte zum zentralen Thema der Wahlkämpfe 1986 in Bayern und 1987 im Bund werden.
Für den neuen „Atomstaat“, wie ihn der auch in Wackersdorf aktive Zukunftsforscher Robert Jungk vorausgesagt hatte, waren die Unruhen in der Oberpfälzer Provinz der Einstieg in neue polizeiliche Taktiken: Demonstrationsverbote und Massenverhaftungen, die Umstellung ganzer Dörfer, Hausdurchsuchungen, die Massierung starker Verbände nicht nur aus dem eigenen Bundesland, und der Einsatz von Bundesgrenzschutz sollten den wachsenden Widerstand brechen, der seinerseits neue, nicht immer gewaltfreie Formen annahm.
Ostern 1986 kam es zur offenen Feldschlacht. Um Zehntausende von Atomgegnern auf Distanz zu halten vom 4800 Meter langen Sicherheitszaun, setzte die Polizei erstmals in Deutschland die als giftig geltenden Reizgase CS und CN in großen Mengen ein. Sie wurden von Wasserwerfern versprüht und trafen nicht nur die aus dem ganzen Bundesgebiet angereisten, schwarz bekleideten, relativ schwer bewaffneten „Chaoten“, sondern auch Rentner, Frauen und Kinder. Es kam zu Massenverhaftungen, für die Internierung wurde in Schwandorf ein Notbau bereitgestellt. In der CSU begann die Diskussion über eine Vorbeugehaft (die 1989 tatsächlich beschlossen wurde). Landrat Hans Schuierer warf dem Ministerpräsidenten Strauß vor, er praktiziere in Wackersdorf, was er bei seinen Besuchen bei Diktatoren gelernt habe.
Kurz nach der Osterschlacht, in der Nacht zum 26. April, ereignete sich fern in der Ukraine, in Tschernobyl, ein Gau. Doch auch der „größte anzunehmende Unfall“ in der Atomindustrie war für die verantwortlichen Politiker und Planer kein Anlass, am Projekt Wackersdorf irgendwelche Abstriche zu machen. In dieser Hochspannungslage kam es zur nächsten Schlacht. Mehrere Hundertschaften Polizei aus mehreren Bundesländern rückten zu Pfingsten mit blitzenden Schildern und Helmen gegen nicht weniger als 50.000 besorgte Baublockierer vor, stürmten ihre Bollwerke, schleiften die inzwischen wieder zusammengezimmerten Bretterhütten. Ein Hilfstrupp aus Westberlin tat sich bei der Menschenjagd besonders hervor.
Die Staatsgewalt probte zwei neue Taktiken: Zunächst die Einkesselung, wobei „Polizeihunde auf Menschen gehetzt und Schlagstöcke auf wehrlose Frauen kaputt geschlagen wurden“ - so Landrat Schuierer als Augenzeuge. Menschen wurden durch den Schlamm geschleift, die Gefangenen bis zu 30 Stunden im Kessel festgehalten. Noch fataler war der Abwurf von CS-Gas aus Hubschraubern. Am Ende waren 600 Demonstranten und 300 Polizisten verletzt. Und die ersten Todesopfer waren zu beklagen.
Der 38-jährige Ingenieur Alois Sonnleitner starb nach einem Asthma-Anfall. Zwei junge Polizeibeamte sollen Selbstmord verübt haben und ein Hubschrauberpilot stürzte bei der Verfolgung von Demonstranten tödlich ab. Neun Tage später zeigte das bayerische Innenministerium in München das im gegnerischen Lager sichergestellte Waffenarsenal: Molotow-Cocktails in Weinflaschen, handgefertigte Sprengsätze, Feuerwerkskörper aus China, Krähenfüße, Gasmasken, Glas- und Stahlkugeln. Bayerns Polizei wurde nun durch „neuartige Distanzwaffen“ (Innenminister Karl Hillermeier) aufgerüstet, es handelte sich um Blendschockgranaten und Gummischrotgeschosse. Über hundert Beamte baten nach der „Pfingstschlacht“ um ihre Dienstentlassung.
Im „Atomjahr 1986“ folgten weitere Ausschreitungen rund um den Bauplatz, Blockaden von Materiallieferungen, diplomatische Verwicklungen mit dem benachbarten Österreich, Prozesse, Protestaktionen Prominenter, die Absetzung eines Polizeiführers, parlamentarische und polizeiliche Untersuchungen. Und nicht zuletzt die Fortsetzung des „Wackerland-Krieges“ im bayerischen Wahlkampf. Dieser endete am 12. Oktober zwar wieder einmal mit einem haushohen Sieg der CSU (55,8 Prozent), im Landkreis Schwandorf aber, dem Symbol von Staatsgewalt und Widerstand, musste die staatstragende Partei ihre absolute Mehrheit an die rebellische SPD abgeben.
Und es wurde weitergebaut. Die hermetisch gesicherte Atomfestung im Taxöldener Forst wurde noch als Baustelle zur Touristenattraktion; manche träumten schon von einem „nuklearen Disneyland“, von einem „kernindustriellen Neuschwanstein“. Jedoch ergaben Umfragen bei Besuchern des Oberpfälzer Waldes, dass zwei Drittel nach Inbetriebnahme der WAA in dieser Gegend nicht mehr Urlaub machen würden.
Und dann die größte anzunehmende Sensation, das plötzliche Ende: Am 15. April 1989 gab die Betreibergesellschaft bekannt, sie werde die deutschen Atomrückstände künftig bei einem französischen Nuklearunternehmen entsorgen. Noch versuchten die bayerischen Atomvorkämpfer, ihr Lieblings-Projekt irgendwie zu retten, nachdem immerhin 2,6 Milliarden Mark dafür investiert worden waren. Bis Umweltminister Alfred Dick am 11. Mai 1989 das endgültige Aus verkünden musste. Strauß hat die Niederlage nicht mehr erlebt.
Als häufiger Augenzeuge und Berichterstatter der Auseinandersetzungen hat der Autor den „Wahn von Wackersdorf“ ausführlich beschrieben in seinem Buch „Babylon in Bayern – Wie aus einem Agrarland der modernste Staat Europas werden sollte“, Edition Buntehunde, Regensburg, 2004.