Wie Sammy Drechsel einst in München die Kleinkunst großgezogen hat
Köpfchen und Schnauze
Heuer - 2015 - wäre Sammy Drechsel 90 Jahre alt geworden. „Ein Solitär, eine Legende - ohne ihn hätte es viele bekannte Kabarettisten nicht gegeben, mich vermutlich auch nicht,“ sagte einmal Dieter Hildebrandt, der 30 Jahre lang sein engster Freund und Mitarbeiter war. Zu seinem 60. Geburtstag interviewte Karl Stankiewitz den Tausendsassa, der kurz danach schwer erkrankte an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte – und dennoch vor Aktivität sprühte.
„'n bissken ville für 'n ollen Mann,“ berlinert Sammy Drechsel mit müdem Lächeln. Drei „große Sachen“ hat er gleichzeitig in der Mache: die Regie für den nächsten „Scheibenwischer“, die Produktion der Werner-Schneyder-Show „Satz für Satz“, die ihm eine Tournee-Planung für 60 Städte abfordert, und die Proben für das nächste Programm der „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“ im Schwabinger Stammhaus, wo Drechsel obendrein den Kneipier spielt. Theatermachen – das ist die eine Hälfte seines Lebens.
Am Abend nach der Probe vorn auf dem Nudelbrett macht Drechsel in den hinteren Räumen wiederum drei Dinge gleichzeitig: Er schaut am Bildschirm ein Fußball-Pokalspiel an, das er gelegentlich aus alter Gewohnheit vor sich hin kommentiert, er gibt seinen beiden Sekretärinnen letzte Anweisungen bis hin zum Reparaturauftrag für eine Schreibmaschine, und außerdem gibt er mir ein Interview zu seinem 60. Geburtstag am 25. April 1985. An diesem Jubeltag wird sein Verein „FC Schmiere“ drei Mal ihm zu Ehren spielen. Der Sechzigjährige ist immer noch dabei, als Mittelstürmer, „da musste am wenigsten loofen“.
Fußball – das ist sein zweites Leben. Damit hatte jedenfalls seine Karriere begonnen. Wie er als flinker Steppke zum Kapitän der Berliner Schülerauswahlmannschaft aufgestiegen war, das beschrieb er später in seinem Buch „Dreizehn Freunde müsst ihr sein“ - es wurde zum erfolgreichsten Sportbuch Europas. Damals hieß er noch Karlheinz Kamke und war Pflegekind, unehelich geboren als Sohn eines jüdischen Diplomaten. Zum „Sammy“ machten den Siebzehnjährigen die Kollegen beim Berliner Rundfunk – nach dem Fortsetzungsroman „Warum rennt der Sammy so?“. Die Kodderschnauze fiel sogar Goebbels auf. Was den blutjungen, spurtschnellen Sportreporter mit dem nicht ganz arischen Stammbaum aber nicht davor bewahrte, schließlich in einer Strafeinheit im Osten zu landen. Anfang Januar 1945 floh er nach Berlin. Wenn er in den Luftschutzkeller musste, versteckte er sich im Kontrabass-Kasten eines Musikers.
Über Tingeltangel bei den Briten, denen er sich mit einem gefälschten Pass andiente, stieg Sammy im Nachkriegsberlin zum Starreporter des Senders im amerikanischen Sektor auf. Mit dem Mikro in der Hand wanderte er durch die Ruine der Gedächtniskirche, fuhr auf einem Seil hoch über dem Gendarmenmarkt, bestieg den Funkturm von außen, sprang von einem Zehn-Meter-Turm ins Wasser (obwohl er gar nicht schwimmen konnte) und legte sich unter einen rasenden Zug.
Der Sportredakteur Robert Lembke holte ihn nach München, und bald war die „Berliner Klappe“ für den Bayerischen Rundfunk unentbehrlich, vor allem beim Eishockey. Lembke: „Kein Bayer kann so schnell sprechen wie Eishockey gespielt wird.“ Trotzdem wurde er „mehrfach gefeuert“. Das hatte allerdings nichts zu tun mit den „teilweise sehr gefährlichen Kisten“, die er als Reporter immer gern bewegt hat, sondern mit seinem zweiten Leben: Drechsel hat das politische Kabarett aus dem Milieu der Künstlerkeller herausgeholt, hat daraus richtiges Theater gemacht und es mit Hilfe des Mediums Fernsehen zu einem Massenspektakel werden lassen. Ihm glückte wie keinem anderen, die „Kleinkunst“ wirklich groß zu machen.
Und das kam so: Am 1. Mai 1955 gelangte Drechsel - er war eben 30 geworden - zufällig in ein Schwabinger Kellerlokal, wo eine Studentengruppe mit dem zutreffenden Namen „Die Namenlosen“ auftrat. Als man den bekannten Reporter sichtete, improvisierte ein nur zwei Jahre jüngerer Nachwuchsschauspieler – er hieß Dieter Hildebrandt – eine Sportreportage derart pfiffig, dass der persiflierte Drechsel in Begeisterung ausbrach: „Kinder, für euch sollte wirklich was getan werden. Vor allem müsst ihr aus dem Keller raus.“
Bald danach bewilligte das Amt für Öffentliche Ordnung demZuzügler aus Berlin und seinen Schützlingen, „literarisch-kabarettistische Veranstaltungen (Gesangs- und deklamatorische Vorführungen)“ in einer Gaststätte in der Ursulastraße 5 „durchzuführen“. Und das tat die „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“ mit jahrzehntelangem Erfolg und wechselndem Personal. Der Letzte von der Gründertruppe, der zuletzt schon legendäre Hildebrandt, wollte sich im Dezember 2013 auf seiner Stammbühne verabschieden – wenige Tage davor ist er gestorben.
Dass aus den namenlosen Neu-Schwabingern eine nationale Institution wurde, dass diese Gesellschaft des Lachens und Schießens die politische Kultur unserer Republik nachhaltig beeinflusst hat, dass diesem Stamm schönste kabarettistische Zweige entsprossen sind – das war nicht zuletzt ein Verdienst dieses kleinen, quirligen, unermüdlichen, dabei bescheidenen und immer hilfsbereiten Kleinkunstmachers. In unserem Geburtstagsgespräch damals spielte er seinen Beitrag am Erfolg herunter: „Ich hab' mich nie in die Texte eingemischt.“ Er habe sich immer nur um die Regie, die Organisation und die Finanzen gekümmert. Er sei gar kein Regisseur, sagte ihm Werner Schneyder mal, er spiele nur einen. Weil er immer nur hinter den Kulissen stand (und ein paar Mal hinter der Kamera), ist der so oft gefeuerte Reporter öffentlich nie so recht gefeiert worden.
Zwei Herzinfarkte hatte er vor seinem 60. Geburtstag schon überstanden. Aufhören? „Könnt' ich gar nich“, sagte er. „Ich war keine Minute angestellt, mit Rente is' nischt.“ Dass er das riesige Pensum immer noch schaffte, verdankte er nicht zuletzt seiner Frau, der damals sehr beliebten Fernsehansagerin Irene Koss, die auch seine engste Mitarbeiterin war. 1985 übernahm er sogar noch eine kleine Rolle in Helmuth Dietls „Kir Royal“. Sammy Drechsel starb am 19. Januar 1986.