Zum 66. Sudetendeutschen Tag an Pfingsten in Augsburg - Karl Stankiewitz erinnert sich
Vor 70 Jahren begann der Leidensweg
In diesem Raum eines Vertriebenenlagers bei München lebten 1947 nicht weniger als 18 Sudetendeutsche. Foto: Sudetendeutsches Institut
Der 66. Sudetendeutsche Tag, der zu Pfingsten 2015 in Augsburg stattfindet, hat heuer drei Höhepunkte: Zu gedenken ist der vor 70 Jahren begonnen Vertreibung von über drei Millionen Sudetendeutschen aus ihrer Heimat, aufzubauen ist ein internationales Netzwerk, das angesichts der weltweit größten Flüchtlingswelle seit 1945 ein kodifiziertes Heimatrecht anstrebt und zu würdigen ist der tschechisch-deutsche Verständigungsprozess, der nach einem Geleitwort von Bernd Posselt, dem Sprecher der Volksgruppe, „weiter an Fahrt aufnimmt“. Mit den stammesverwandten Bayern haben sich die „böhmischen Leut“ ohnehin längst verbrüdert.
In München kannte man sie schon vor dem Ersten Weltkrieg. Auf dem Oktoberfest und bei Trachtenumzügen wurden sie stets begeistert begrüßt: die Männer in schwarzen Hosen, kurzen Jacken, hohen Stiefeln und flatternden Bändern, die Frauen in roten Röcken, schwarzen Schürzen mit goldverzierten Hauben. Wappen sudetendeutscher Städte schmückten Wagen und Fahnen. Ihre eigentliche Heimat war die Region zwischen Eger und Pilsen, ein schönes Stück Böhmen mit großer Geschichte und berühmten Bädern. Viele ließen sich ganz in München nieder. Sie gründeten hier schon 1910 eine „Eghalanda Gmoi“ und bezogen in der Pappenheimer Straße ein „Deutsches Haus“, wo sie die heimatlichen Bräuche pflegten und ihre Lieder sangen, „dau in der Fremd“. Jahrzehntelang gediehen die verwandtschaftlichen Beziehungen unter wechselnder Herrschaft.
„Dann kam der totale Krieg und alles lag danieder“, heißt es in einer Chronik der heute wieder in München ansässigen Egerländer Gemeinde. Und dann kam der Mai des Jahres 1945. Von da an sollten die Sudetendeutschen besonders bitter büßen für alle Gräueltaten ihrer braun und schwarz uniformierten Protektoren, denen die meisten allzu sehr zugetan waren. Plötzlich waren sie, die angestammten Mitbürger, unerwünschte Ausländer. Kaum, dass die Tschechen wieder Herren im eigenen Haus waren, begann die Vertreibung, noch relativ harmlos: Lebensmittelkarten bekamen den Aufdruck „Nemec“ (Deutscher) – ähnlich wie es Jahre zuvor den deutschen Juden widerfahren war. Auch mussten die so Gezeichneten, je nach Bezirk, weiße oder gelbe Armbinden tragen.
Dann marschierte eine „Revolutschna Garda“ ins Egerland ein, plündernd und marodierend – ähnlich wie es schon Wallensteins Soldateska im Dreißigjährigen Krieg gerade in diesem Winkel getrieben hatte. Viele Egerländer verloren ihren gesamten Besitz, einige auch ihr Leben. Andere wurden ins Innere Böhmens geschafft, wo sie im Bergbau oder bei Bauern schuften mussten. Viele Tausend aber konnten alsbald ins restliche Deutschland entkommen, manche sogar mit Hilfe amerikanischer Soldaten, die noch bis Ende 1945 im Land standen.
Doch das Nachbarland Bayern war ausgezehrt und es war bereits vor der Kapitulation überlaufen: von 734.000 Flüchtlingen und Evakuierten, von heimgekehrten Wehrmachtsangehörigen, von befreiten Häftlingen und Zwangsarbeitern, die man Displaced Persons nannte und bevorzugen musste. Die Situation spitzte sich zu, als der Alliierte Kontrollrat – in Vollzug des Potsdamer Abkommens - im November 1945 die „Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben“ aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei nach Deutschland anordnete. Betroffen waren nicht weniger als 6,65 Millionen Deutsche. Bayern war insbesondere für die Aufnahme der Sudetendeutschen vorgesehen.
Schon im Januar 1946 rollten die ersten Sonderzüge über die Grenzbahnhöfe Hof und Furth im Wald gen Südwest. Wie im Egerland, so galt überall im Sudetenland für die als „Transfer“ bezeichnete Abschiebung, dass pro Person nicht mehr als 30 bis 50 Kilo Gepäck und 500 Reichsmark mitgenommen werden durften. Ausgenommen von der Schikane waren zunächst nur erwiesene „Antifaschisten“, die aber etwas später, wenn auch unter zivilisierteren Bedingungen, gleichfalls ausgewiesen wurden. Eine deutsch-tschechische Historikerkommission wird viel später 15.000 bis 30.000 „Vertreibungsverluste“ in der CSR schätzen, Todesopfer also.
Im Laufe des Jahres kamen 764 solcher Transporte mit je tausend in Viehwaggons eingepferchten, oft ihrer Habe beraubten Menschen nach Bayern. Weitere 176.000 Sudetendeutsche gelangten als Einzelgänger über die Grüne Grenze, bis diese durch einen „Eisernen Vorhang“ gesperrt wurde. Am Ende des großen Exodus im Jahr 1948 waren in Bayern 1.025.000 Vertriebene aus Böhmen, Mähren und der Slowakei im Freistaat Bayern registriert, weit doppelt so viele wie Zuwanderer aus Schlesien.
Durch diese nie zuvor erlebte Migration wurden die Sudetendeutschen – wie Ministerpräsident Hans Ehard 1954 proklamierte – „Bayerns vierter Stamm“, neben Altbayern, Franken und Schwaben. Die Regierung übernahm formell die Schirmherrschaft. Sie bewirkten – so der Historiker Walter Ziegler – eine „säkulare Veränderung der Bevölkerungsstruktur“. Das Grenzland Bayern hatte – neben Schleswig-Holstein – die Hauptlast des ganzen europäischen Flüchtlingsstroms, der eine neue Völkerwanderung war, zu tragen. Seine Bevölkerung wuchs dadurch von rund sieben Millionen vor dem Krieg auf 9.329.000 im August 1948.
Insgesamt machten die Zuzügler aus dem Osten nicht weniger als 23 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, so dass der jetzt allein mit der CSU regierende Franke Hans Ehard eine „Welle der Radikalisierung“ befürchtete und mit Schreiben vom 28. Juni 1948 die „Abschleusung“ von mindestens 200.000 Personen in andere Länder der US-Zone forderte. Und am 29. Januar 1949 bat die Regierung in München – ähnlich wie 2014 die Regierung in Rom angesichts jüngster Flüchtlingsströme aus Afrika – um die Hilfe der Vereinten Nationen, „da dieses Problem kein rein bayerisches und kein rein deutsches, sondern ein europäisches ist“.
Den Neubürgern vom „vierten Stamm“ erging es in ihrer neuen Heimat zunächst nicht besser als – damals wie heute – fast allen anderen Flüchtlingen auf der Welt. 144 staatlich beauftragte „Flüchtlingskommissare“ sollten sie zunächst betreuen. Schnell entstanden Feindseligkeiten auf allen Seiten. Horst B. erinnert sich an Kindheitserlebnisse, an Witze, über die er immer noch nicht lachen kann: „Flüchtlinge und Egerlinge – beide sind Schädlinge.“
Ungeliebte „Flichtling“
Tschechisches Plakat von 1945 mit Angaben zum Gepäck, das die Deutschen bei der Vertreibung mitnehmen durften. Foto: Sudetendeutsches Institut
Flüchtlingsvertreter und Kommunalpolitiker beschimpften die „Diktatur der Kommissare“ wegen der rigorosen Zwangseinweisungen in enteignete (meist von „Nazis“ bewohnte) Wohnungen, in Pfarrhäuser oder in Lager, wofür verlassene Baracken von Kriegsgefangenen und Deportierten ebenso in Betracht kamen wie improvisierte Siedlungen, Container und Camps. Im Sommer 1946 berichtete Innenminister Josef Seifried (SPD) nach Inspektion einiger Lager über „elendste Zustände, insbesondere in hygienischer Hinsicht“. Beispiel: Für 50 Personen stand zum Waschen nur ein Eimer Wasser zur Verfügung. Erst 1957 wurden die letzten Lager aufgelöst.
Allein München hatte über 20 solcher Lager mit über 5000 Bewohnern. Zeitweise wurde auch das frühere Konzentrationslager Dachau genutzt. Im August und September 1948 kam es in den erbärmlichen Dachauer Baracken zu Revolten. Eine geballte Ladung von Forderungen wurde mit der Androhung eines Hungerstreiks verbunden. Sie befürchteten eine neue Ausgrenzung nach der Ausweisung. Der „Aufstand“ konnte beendet werden mit dem schlagenden Argument, dass es sich beim Wortführer Egon Herrmann um einen Kommunisten handle. Danach entstand eine Mustersiedlung für 2000 Sudetendeutsche, mit Schulhaus, Kino und Kirche. Die hatten bereits internierte SS-Leute erbaut, dazu eine Orgel aus Konservenbüchsen ihrer amerikanischen Bewacher.
Trotz des gemeinsamen nationalen Schicksals, trotz aller Appelle von Politikern und Seelsorgern, trotz verwandter Mundart und gleicher Konfession mangelte es großen Teilen der oberbayerischen Bevölkerung, die von den Einweisungen betroffen waren, zunächst an Akzeptanz, Toleranz und Solidarität. Radikale und separatistische Gruppen nutzten solche Stimmung, sie riefen in Plakaten und Flugblättern zum „Hinauswerfen“ der Mitbewerber auf dem Wohnungs-, Ernährungs- und Arbeitsmarkt auf. Ernsthaft diskutiert wurde sogar, ob ein Teil des Tegernseer Tals für solche Neubürger freigeräumt werden sollte.
Besonders in ländlichen Regionen waren sie recht ungern gesehen, die Fremden, die „Flichtling“ mit ihrem auffallenden Fleiß. (Der Begriff „Heimatvertriebene“ setzte sich erst nach einem 1953 erlassenen Bundesgesetz durch, offiziell galten fortan nur noch die aus der „Sowjetzone“ geflüchteten deutschen Mitbürger als „Flüchtlinge“). Noch 1950 bejahten 50 Prozent der befragten Bayern die Frage, ob Flüchtlinge in ihrer Gemeinde eine Störung oder Belastung seien, während sich 40 Prozent der Betroffenen sozial deklassiert fühlten.
Anfangs zeichnete sich sogar „eine Art Palästinenserproblem“ ab, resümiert Manfred Treml vom Haus der Bayerischen Geschichte. Mancherorts wurde die zugezogene oder zugewiesene Minderheit regelrecht ausgegrenzt. So musste die Staatsverwaltung im Hungerjahr 1946 die Gemeindeverwaltungen darauf hinweisen, dass es nicht gestattet sei, verstorbene Flüchtlinge außerhalb der Friedhofsmauern zu begraben. Anfang 1946 wurden landsmannschaftliche Selbsthilfegruppen, die beispielsweise die landwirtschaftliche Nutzung von Truppenübungsplätzen oder gar eine Bodenreform anstrebten, wegen „Anmaßung von Befugnissen“ von der US-Militärregierung aufgelöst.
Der Historiker Walter Ziegler macht für die „erheblichen Misshelligkeiten“ insbesondere Neid und Sorge vor Überfremdung sowie die „hohe Aktivität“ der Flüchtlinge verantwortlich. Gerade die Sudetendeutschen konnten sich als tüchtige Handwerker, Facharbeiter und Gewerbetreibende relativ rasch integrieren, gefördert durch Kopfgeld, Soforthilfe oder staatliche Aufbaufinanzierung. In Teilen der bayerischen Wirtschaft lösten die „wild zum unternehmerischen Wiederaufstieg entschlossenen Neuankömmlinge“ allerdings Eifersucht und Misstrauen aus.
Jedenfalls wird das „Wirtschaftswunder“ der frühen 1950er-Jahre zu einem guten Teil der Geschäftigkeit dieser wackeren Leute zugeschrieben. Ende 1948 existierten in Bayern bereits 2400 Flüchtlingsbetriebe, von denen viele exportierten. Ehemalige Rüstungsbetriebe in Geretsried und Traunreut, besiedelt durch sudetendeutsche Fachleute, entwickelten sich zu blühenden Städten.
Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch konnten die Sudetendeutschen in Bayern bald beste Plätze besetzen. So wurde das Arbeits- und Sozialministerium ihre Domäne (aus Böhmen stammten die Minister Walter Stain, Hans Schütz und Fritz Pirkl); Johann Böhm wurde später Landtagspräsident; Richard Reitzner, Volkmar Gabert, Peter Glotz und Emil Werner bekleideten hohe Ämter in der SPD. Der von Sudetendeutschen initiierte „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) war noch bis 1962 stark im Landtag vertreten, seine Exponenten (Theodor Oberländer, Walter Becher) wechselten dann zur CSU über, die sich überhaupt als Anwalt der Sudetendeutschen verstand. Kulturellen Einfluss gewannen Vereinigungen, die Namen berühmter Landsleute führten (Adalbert Stifter, Johannes von Tepl-Ackermann aus Böhmen) und auch einen Beitrag leisteten zur deutsch-tschechischen Versöhnung.
So konnte die neue Minderheit ganz allmählich volle Anerkennung, ja Ansehen in der Gesamtgesellschaft erringen. Auch in den Dörfern und längst nicht nur in der an Fremde gewohnten Millionenstadt München, wo rund 27 000 Sudetendeutsche „hängengeblieben“ sind, darunter fast 10.000 Egerländer. Diese gründeten im Kreuzbräu ihre „Gmoi“ neu. Eng arbeiten sie mit örtlichen Vereinen zusammen. Einige Dorfgemeinden übernahmen Tänze, Trachten und Lieder ostdeutscher Volksgruppen in ihr eigenes Brauchtum. Die rührigen Egerländer durften 1972 sogar bei den Olympischen Spielen ihre Reigen drehen. 1973 eröffneten sie in Marktredwitz, finanziert aus Spenden, ein Egerländer Museum. Hatte es lange Zeit Nachwuchsprobleme gegeben bei den sudetendeutschen und anderen Volksgruppen, so können sie – vielleicht infolge der spätestens seit 1990 erkennbaren „Entpolitisierung“ und somit Entkrampfung – jetzt wieder zahlreiche „Moidlan und Boum“ in ihren Reihen begrüßen.
„Der Erhaltung und Weiterentwicklung der Sudetendeutschen Volksgruppe, ihrer Kultur, der Künste und Wissenschaften dienen, eine Heimstatt mit angemessenen Arbeitsplätzen bieten“ - das will das 1984 am Isarhochufer bezogene Sudetendeutsche Haus. Es beherbergt zwei Stiftungen, eine Bibliothek mit 37.000 Bänden und vor allem den Bundesverband der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Nebenan in der Hochstraße soll bis 2018 ein Sudetendeutsches Museum die Geschichte der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien darstellen. Nicht nur politische Ereignisse sollen in drei Sprachen dokumentiert werden, sondern auch Sozial- und Alltagsgeschichte; nicht zuletzt wird das Zusammenleben mit Tschechen und Juden thematisiert, wobei Fachleute aus Tschechien mitarbeiten. Als Grundstock liegen bereits 20.000 mögliche Ausstellungsstücke vor sowie 70 Interviews mit Zeitzeugen zu Vertreibung und Integration.
Tschechische Politiker wollen auch teilnehmen, wenn Vertreter der Sudetendeutschen Landsmannschaft demnächst zwei Orte besuchen, wo vor 70 Jahren Schreckliches geschah: der "Brünner Todesmarsch" und das Massaker an der Aussiger Elbbrücke.
Dieser Text basiert auf einem gekürzten und aktualisierten Kapitel des Buches „Minderheiten in München“ von Karl Stankiewitz, das der Pustet Verlag im September 2015 im Valentin-Musäum vorstellen wird.