Bayern und die Nuklearenergie - Karl Stankiewitz über 40 Jahre Ohu
Wie Deutschlands stärkste Atomfestung entstand, angegriffen und verteidigt wurde
Bereitschaftspolizisten auf einem Hügel vor Ohu, eine Aufnahme von einer der ersten Antiatomdemos in Bayern am 1. Mai 1974. Foto: Karl Stankiewitz
Die Bayerische Staatsregierung wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, dass der Freistaat wie andere Bundesländer auch Atommüll zur Zwischenlagerung zurücknimmt. Dies wäre Bestandteil des Konzepts der Bundesregierung, mit dem die Folgen des Atomausstiegs und der Energiewende abgearbeitet werden sollen. KV-Autor Karl Stankiewitz erinnert sich an den Anfang der Bürgerbewegung gegen die Atomkraft in Bayern vor 40 Jahren, als den ersten klar wurde, dass diese Technik gewaltige Folgen haben wird.
In Bayern werde die Errichtung weiterer Kernkraftwerke „nun aber immer dringlicher“, sagte der Energiereferent des Wirtschaftsministeriums, Helmut Sauer. Das war vor genau 40 Jahren. Da haben die Folgen der ersten, durch einen Nahostkrieg ausgelösten Ölkrise – Preissteigerungen, Kurzarbeit, Tempolimits, Fahrverbote – den Industriestaaten das große Thema Atomenergie definitiv aufgezwungen. Besonders dem Agrarland Bayern, das schon seit den 60er-Jahren durch Ölpipelines besseren Anschluss an den Weltenergiemarkt gesucht hatte. 1975 wurde bekannt, dass die Staatsregierung den Bau von sechs neuen nuklearen Anlagen plane. Einer der ausersehenen Standorte war Ohu, ein kleines Bauerndorf nördlich der niederbayerischen Hauptstadt Landshut. Nahebei, in Niederaichbach, war im Juli 1974 erst der erste Versuchsmeiler zu Lasten der Betreiberfirma Siemens stillgelegt worden (er wurde erst 1985 aufwändig abgerissen).
Kaum waren die atomaren Pläne durchgesickert, begann auch schon der Volkswiderstand. Anführer war der kämpferische Vorsitzende des Bund Naturschutz in Bayern, Hubert Weinzierl. Gleich am Ort des zu erwartenden Geschehens wollte er das Projekt in einem flammenden Appell niedermachen. Eine Bombendrohung hielt ihn zurück. Deshalb überließ er seine vorbereitete Zornesrede einigen ihm nahestehenden Journalisten. Wir zitierten also eine Verkündung, die sich erst heute, 40 Jahre danach, zu erfüllen scheint: „Das Zeitalter der Kernenergie ist zu Ende.“
Das baldige Out war durchaus begründet: Aus dem hessischen Biblis waren die ersten, zunächst verheimlichten Unfälle im damals größten Kernkraftwerk der Welt ruchbar geworden. Und im ersten größeren Reaktor Bayerns, in Gundremmingen, hatten sich die ersten tödlichen Unfälle in einem deutschen Atommeiler ereignet. Nach Weinzierls Wissen wurde „in verantwortungsloser Weise geschlampt, gemurkst, vertuscht und verniedlicht“. Der größte anzunehmende Unfall, Gau genannt, sei beinahe mit dem Schraubenschlüssel herbeizuführen.
Der „Don Quichotte des Atomzeitalters“, wie ich ihn scherzhaft nannte, hatte sich von erfahrenen Technikern bestätigen lassen, dass in Ohu zwei Drittel der erzeugten Energie über Kühltürme in die Luft oder in das Flusswasser entlassen und somit die Umwelt gefährden würden. (Erst viel später wird man im Wohnumfeld von 15 Kilometern eine signifikant höhere Kinderkrebsrate feststellen). Den verantwortlichen Politikern warf Weinzierl „Volksverdummung“ und sogar „Psycho-Terror“ gegen besorgte Bürger vor. Die „Atomwerker“ hätten sogar bereits eine schwer bewaffnete und schlagkräftige Spezialpolizei eingekauft. Also: „Der Nuklearfaschismus beginnt.“
Tatsächlich fanden die vereinigten Atomkraftgegner und wir Journalisten, die diese begleiteten, beim Protestmarsch nach Ohu, der ersten Antiatomdemo in Bayern, inmitten des Bauernlandes eine regelrechte Festung vor. Etwa 7000 Mann des Bundesgrenzschutzes und der Bereitschaftspolizei waren an einem Tag im Mai im südlichen Niederbayern zusammengezogen. Sie besetzten Einzelhöfe und Flussübergänge, errichteten Straßensperren, durchsuchten Autos aus Richtung München und Freising nach Waffen oder Enterhaken. Das „Objekt KK1“ selbst sicherten außerdem 2000 schwarz uniformierte Bereitschaftspolizisten aus Bayern, Württemberg und Hessen, die Erfahrungen aus der Schlacht um das KKW Brokdorf an der Elbemündung mitbrachten.
Eine endlose Reihe weißer Helme und schillernder Schilde zog sich den Mühlbach entlang. Eine Schlachtordnung wie in alten Kriegen. Polizeidirektor Willibald Mertel verriet uns: „Wenn der Bach angegriffen wird, treten wir in Aktion.“ Vorsorglich waren auch am Isarstausee schnelle Hartschaumboote festgemacht, um eine Attacke von der Wasserseite her abwehren zu können. Eine Pipeline zum Anschluss an mobile Spritzmaschinen führte zum äußeren Bauzaun, den man für 1,7 Millionen Mark noch schnell um die zwei Kilometer lange Umzäunung gezogen hatte.
Wild entschlossene Chaoten und erfahrene Terroristen hatten die Verteidiger des Atomstaates erwartet. Doch es kamen ihnen friedliche Marschierer entgegen. Neue, phantasievolle Aktionen hatte sich ihr Kinderkreuzzug vorgenommen. Sie sangen Volkslieder, tanzten Ringelreihen und riefen: „Samstags frei für die Polizei“ oder auch: „Kein Kernkraftwerk in Ohu – und auch nicht anderswohu.“ Mädchen kränzten sich mit Blumen und überreichten den jungen Bundesgrenzschützern in ihren Panzerluken wiesenfrische Löwenzahnblüten. Die Bevölkerung, vom Bürgermeister und dem Kreisobmann des Bauernverbandes zum Fernbleiben vom Ort der Demo aufgerufen, betrachtete das Aufgebot der Atomgegner aus den Städten eher wohlwollend – als Gaudi oder wie eine exotische Prozession.
Weiteren Demonstrationen und über 10.000 schriftlichen Einwänden zum Trotz ging Isar I im November 1977 ans Netz. Aber vom ersten Hochfahren bis heute war die Geschichte von Pannen begleitet. Die Anlage, die mit zunächst 380 Megawatt die stärkste deutsche Atomstromquelle werden sollte, wurde zunächst nur mit 30 Prozent ausgelastet. Wegen ungeklärter Sicherheitsfragen. Trotzdem versicherte Bayerns Umweltminister Alfred Dick, der später demonstrativ verstrahltes Molkepulver verspeiste, für die Bevölkerung sei jede Gefahr ausgeschlossen.
Schon während des Probebetriebs, im Februar 1978, musste der Atomofen wieder ausgeblasen werden. Beim Bruch einer provisorischen Messleitung waren 200.000 Liter radioaktives Wasser als heißer Dampf ausgetreten und zum Teil ins Freie gelangt. Nachdem die (staatlichen) Betreiber vom Umweltminister wegen verspäteter Meldung gerügt und die Schäden behoben waren, sollte endlich im Hochleistungsbetrieb „gefahren“ werden. Bald jedoch musste wieder abgeschaltet werden. Einige Umwälzpumpen waren „relativ häufig“ ausgefallen. Es wurde nachgerüstet.
Als die Dichte der reparierten Leitungen routinemäßig geprüft wurde, stellte man ein Leck fest. Und bei der Überprüfung der 10.000 Schweißnähte fanden sich auch weitere „Unregelmäßigkeiten“. Nachdem innerhalb von fünf Minuten drei Mal neue Probleme entdeckt wurden, grantelte der Niederbayer Dick, über den Stand der Kernenergietechnik müsse sich allmählich der Eindruck verbreiten: „Das ganze G’lump geht net.“
Den Vorwurf zweier Professoren der Universität Bremen, schwer wiegende Störfälle im angeblich modernsten deutschen KKW verheimlicht zu haben, wiesen Bayerns Umweltminister und die Siemensfirma Kraftwerk Union als Panikmache zurück. Die Naturwissenschaftler, denen offenbar Interna zugespielt worden waren, wollten indes wissen, dass einmal durch ein Loch in einem Stahlrohr radioaktiver Dampf ins Reaktorgebäude gelangt sei, ohne dass abgeschaltet wurde; daraus hätte ein Unfall „nahe dem GAU“ entstehen können.
Gemeinsam mit dem Landshuter CSU-Oberbürgermeister Josef Deimer wollte die SPD darauf dringen, dass die Erweiterungsanlage aus der Planung gestrichen werde. Die Gegend sei mit Isar 1 schon „ausreichend bedient“. Meldungen tauchten auf über weiß gefiederte und verkrüppelte Spatzen in der Umgebung des Atommeilers. Der Müll landete zunächst in der niedersächsischen Asse, aber nach deren Schließung häufte er sich in den Kompaktlagerstätten von Ohu. Wie eine Bombe schlug im März 1981 in Landshut die Absicht der Betreiber ein, die mittelaktiven Abfälle aus dem zwölf Kilometer entfernten KKW der städtischen Müllverbrennung zuzuführen.
Es folgte abermals eine Abschaltung, die ein ganzes Jahr dauerte. Leitungen des inzwischen 900 Megawatt starken Kernkraftwerks mussten ausgewechselt und durch eine andere, besser zu überwachende Stahlsorte ersetzt werden. Im November 1982 sinnierte der Münchner Atomphysiker Professor Heinz Meier-Leibnitz, der 25 Jahre zuvor das „Atom-Ei“ von Garching ausgebrütet hatte, während eines selbst zubereiteten Abendessens mit Journalisten: „Irgendwann wird es einen größeren Unfall geben. Das will ich gesagt haben. Wir Kernphysiker möchten nicht einiges Tages entlarvt werden als die, die gemogelt haben.“ Vier Jahre später ereignete sich der „Größte Anzunehmende Unfall“, der Gau von Tschernobyl in der fernen Sowjetunion.
In Ohu jedoch wurde noch einmal erweitert: Es entstand der technisch andersartige Zwillingsreaktor Isar 2, der noch im Gau-Jahr 1986 ans Netz ging und binnen drei Jahren auf 1350 Megawatt hochgefahren wurde. Nebenan wurde seit 1985 der nicht mehr rentable 100-MW-Reaktor von Niederaichbach - als erstes größeres Kernkraftwerk der Welt – modellhaft mit einem Aufwand von hundert Millionen Mark demontiert. Das strahlenverseuchte Altmetall wurde in Spezialöfen eingeschmolzen und einer Wiederverwendung zugeführt.
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts lieferten die beiden Atomkraftwerke von Ohu, die inzwischen vom Energiekonzert Eon betrieben wurden, weit mehr Strom als alle amerikanischen und französischen Konkurrenten. Weiterhin aber wurden hunderte von Störfällen oder Software-Fehlern gemeldet. Vor allem bei Isar 1 beobachteten auch staatlich beauftragte Fachleute veraltete Systeme beim Kühlkreislauf und bei der Notstromversorgung, immer breiter werdende Risse an den Rohrleitungen. Auch wurde ein unzureichender Schutz gegen Flugzeugabsturz, Terrorangriffe und andere Störfälle von außen bemängelt. Zu einer Beinahe-Katastrophe kam es im März 1988 durch Absturz einer französischen Mirage in nur zwei Kilometern Entfernung vom AKW, dessen Kühlturm von Militärfliegern gern als Wendemarke genutzt wurde.
Nach dem in Berlin beschlossenen Atomausstieg, erzwungen durch die Nuklear-Katastrophe von Fukushima in 2011, wurde Isar 1 im selben Jahr dauerhaft abgeschaltet. Isar 2 soll noch bis 2022 am Netz bleiben und Strom liefern. Atommüll wird übrigens schon lange in Ohu gelagert. Im März 2007 war ein Zwischenlager für abgebrannte Kernstäbe mit einem Fassungsvermögen von 152 Großcontainern in Betrieb gegangen. Eine Wiederaufbereitung war in Wackersdorf geplant und nach vierjährigem umkämpften Bau gescheitert. Ein atomares Endlager war in Bayern nie vorgesehen – das sollte anderswo entstehen.
Die Geschichte von Ohu, Wackersdorf und 14 weiteren umstrittenen Großprojekten in Bayern hat der Autor ausführlich dokumentiert in “Babylon in Bayern. Wie aus einem Agrarland der modernste Staat Europas werden sollte”. Das Buch enthält auch Beiträge von Hubert Weinzierl, Jürgen Trittin und Christian Ude. Es ist 2004 in der edition buntehunde erschienen.