"Welten.Tänzer" - eine Körperanthologie von und mit Stefan Maria Marb im Schwere Reiter
Tanz ums goldene Ideal
"Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu mußt du lange Beine haben". Friedrich Nietzsches Zarathustra, dem das Denken ein Tanz ist, inspirierte Stefan Maria Marb, im Schwere Reiter, ausgehend vom Rückblick auf 25 Jahre seiner Welten als Tänzer und Choreograph, sich mit dem "Selig-Leichtfertigen" zu konfrontieren. Zarathustra, dessen guruhafte Lebensregeln stets im tönenden Erz göttlicher Bevollmächtigung erklingen - "Wahrlich, ich sage euch" -, Zarathustra, der Mussolini und Robert Walser entzückte, der Thomas Mann immerhin achtungsvoll verstörte, Zarathustra, für den die Metaphysiker Pharisäer waren, Zarathustra, der Freund der Wollust. Und widerspenstig selbst dem Autor.
Das Archaische und das Heilige. Oder die hintergründige Gewalt des Heiligen? In der ersten Station, im ersten Kapitel der Marbschen Körperanthologie befinden wir uns draußen. Im einsetzenden Schneetreiben um ein brennendes Ölfass herum. Daneben zwei eisenrohe, rostige Stelen von Hansjürgen Vogel, kriegerisch und verstümmelt, zusammengeflickt, an Schweißnähten vernarbt. An der Mauer kauert eine Gestalt, eingeschlagen in ein Tierfell. Durch die Kälte mit der Mauer verwachsen. Aus der Kälte der Mauer geboren. Das Publikum, eine Parallelgesellschaft aus einer anderen Welt, ist für diese Gestalt nicht sichtbar. In wunschloser Einsamkeit erkundet sie oder bewegt sich eben nur zwischen Feuer und Stelen, wozu kann sich ergeben oder Interpretation anderer sein. Unbeeindruckt verloren. Bedrohlich, nicht bedrohend. Die Parallelgesellschaft weicht zurück wie ein Schwarm, der vor einem Jäger ausweicht. Mit einer Fackel in der Hand verscheucht die Gestalt das Publikum, als wären es seine Gedanken. Die Fackel fällt herunter und bleibt im Eingang zum Theater liegen, das lichtscheue Publikum tritt mit vorsichtig spitzen Füßen ein. Da drinnen, im Foyer, hebt Kultur an. An der Geige Gertrud Schilde, burlesk expressive Piccicati, in der Mitte eine Art griechischer Ajax, nach dem Freitod aus Wut gegen die Götter tot wieder zusammengeschweißt (Hansjürgen Vogel), an der Wand Fotografien (Werner Siebert) des Butohtänzers Ko Murobushi, den Kopf im Flußkiesel versenkt. Aus dem Publikum mit langen Haaren über langem, schwarzen Mantel schält sich der Philosoph (Andreas Mascha), die Laterne eines Spitzwegschen Nachtwächters vor sich haltend, Zarathustra zitierend. Dann ein Film, "Weg 2" von Sabine Scharf. Stefan Maria Marb auf einer Pferdekoppel zwischen vier schwarzen und einem weissen Pferd. Die Pferde irritiert, interessiert, mit spitz aufgestellten Ohren, gespanntem Körper und erotischen Augen, horchen mit dem ganzen Körper in die seltsamen Bewegungen des Tänzers hinein.
"Ich wüßte nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst zuletzt auch seine einzige Frömmigkeit, sein Gottesdienst" (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft).
Dann, dritte Station, im Theaterraum selbst, mittlerweile weiß, gereinigt, am Boden sitzend, mit dem Rücken zum Publikum, nunmehr der Tänzer, der die unbehauste Gestalt abgeworfen hat. Symbole der Initiation, die Glocke der Wandlung, entfernt im Raum die Laterne. Ein luziferischer Arm mag sie aus dem Off hereinhalten. Luzifer, der Leuchtentrager (Lux ferre) wie ihn Stefan Heym in seinem Roman "Ahasver" genannt hat. Unter den forcierten Klängen der Geige entfaltet sich das ganze Drama der Formulierung. Der Atem scheint den Tänzer am Boden gefangen zu halten wie eine humorale Fessel. Dagegen kämpfend dreht sich der weiße Körper über den schwarzen Grund und hinterläßt Abdrücke. Ein Stock als Schamanenholz verwandelt sich in einen pastoralen Stab, wird zum Holz des Gehängten und zur Achse eines Sufi-Wirbels. Die pantheistischen Zitate eines Nietzsche-Kosmos. Luzifer-Prometheus-Christus. Mit forderndem Blick stellt sich Marb vor das Publikum: Gott ist tot, denn er wohnt nun in euch!