Karl Stankiewitz erinnert an das Hungercamp am Sendlinger-Tor-Platz von 2014

Sogar Bäume besetzt

von Karl Stankiewitz

Fast wir zwei Jahre zuvor: Das Lager am 2. November 2016 Foto (mit einem Filter von Vignette): Michael Grill

Novemberbeginn 2016: Das Flüchtlingsdrama am Sendlinger-Tor-Platz hat seinen vorläufigen Höhepunkt. Heute (4.11.2016) wurde das Lager der Hungerstreikenden von der Polizei geräumt, es gibt insgesamt 18 Notfalleinsätze. Einige Demonstranten bleiben zunächst noch auf einem Baum. Wir blicken zurück auf ganz ähnliche Vorgänge, die vor genau zwei Jahren eskaliert waren zu einer explosiven Gemengelage. Bayern, zumal München, wurde damals - nach den Massenlandungen im italienischen Lampedusa – zu einem weiteren großen Krisenherd im Verlauf dieser neuen Völkerwanderung.

Mitte November 2014 machte sich ein Zug von Flüchtlingen, die in verschiedenen bayerischen Sammellagern auf Asylgewährung warteten, auf den Marsch nach München. Am Sendlinger-Tor-Platz schlugen sie ihr Biwak auf. Zwanzig der offensichtlich gut organisierten Männer und Frauen vermummten sich dort und traten in einem Großzelt einen Hunger- und Durststreik an. Den würden sie nur abbrechen, wenn man sie sofort als Asylanten anerkennen und in ordentliche Wohnungen unterbringen würde, „um Teil der Gesellschaft zu sein“ - Plakate machten diese Forderung den Passanten bekannt. Almosen nahmen sie eher widerwillig. Am Abend des 27. November 2014 musste ein Polizeikommando ausrücken, diesmal gleich mit 500 Mann.

Es war nicht der erste Großeinsatz dieser Art. Schon am 22. Juni 2014 waren mehr als 50 Flüchtlinge aus ganz Bayern nach München marschiert. Auf dem Rindermarkt bauten sie ihre Zelte auf, rollten ihre Schlafsäcke aus und stellten davor ein Schild mit der Aufschrift „Gleichheit“. Ihr Sprecher, ein Iraner, forderte das Ende der "Zwangsunterbringung" in Sammellagern und der Essenspakete sowie die Anerkennung als Asylanten.

Dem wurde, vor den Augen staunender bis mitleidiger Münchner, gehörig Nachdruck verliehen: Alle Fünfzig, außer einer schwangeren Frau aus Nigeria, verweigerten das Essen und Trinken. Nach einer Woche wurde das Protest-Camp von der Polizei wegen Lebensgefährdung geräumt. Die Regierung von Oberbayern veranlasste, dass der Wert der Essenspakete fortan bar ausbezahlt wurde.

Im Sommer brachen abermals zwei Gruppen von Asylbewerbern zu einem zweiwöchigen Marsch quer durch Bayern auf, unter ihnen auch einige der Aktivisten vom Rindermarkt. Etwa 25 Ausländer, begleitet von deutschen Sympathisanten und 300 Polizisten, trafen am Abend des 3. September an der Münchner Freiheit ein und forderten: „Bleiberecht überall – kein Mensch ist illegal.“ Vor allem zürnten sie über die Verordnung, wonach Asylsuchende sich nur noch in dem bayerischen Regierungsbezirk, wo sich die zuständige Behörde befand, frei bewegen durften. Schließlich löste sich der Protesttrupp friedlich auf, nachdem noch ein kleines Geplänkel zwischen Unterstützern und Neonazis zu schlichten war.

Anfang 2014 wurde die militärisch längst nicht mehr genutzte Bayernkaserne in München als zentrale Anlauf- und Verteilstelle für Südbayern ausgestattet (für Nordbayern wurde das seit dem Kalten Krieg bewährte Flüchtlingslager Zirndorf ausgebaut). Aber der Ansturm war so gewaltig, dass die Hallen mit den Stockbetten bald überfüllt waren. In einigen hatte man zeitweilig bis zu zwanzig Familien einquartiert. Anfang Oktober 2014 befanden sich 1400 der knapp 4000 in München registrierten Flüchtlinge in der Bayernkaserne und ihren Dependancen.

Jetzt beschloss Ministerpräsident Horst Seehofer einen Krisenstab. Der sollte zunächst die Aufnahmefähigkeit der Münchner Erstaufnahmeeinrichtung überprüfen und weitere sechs solcher Zentren „vorantreiben“. Dabei sollten Räumlichkeiten für Asylsozialberatung, Kinderbetreuung, ärztliche Versorgung vor Ort, für Sport- und Freizeitangebote, Informationsveranstaltungen oder das Abhalten von Deutschkursen „berücksichtigt“ werden. Ein Sonderproblem waren die 1700 unbegleiteten Minderjährigen, einige wurden in das alles andere als winterfeste internationale Jugendcamp im Kapuzinerhölzl eingewiesen.

Es drohe eine „humanitären Katastrophe,“ sagte das Bayerische Rote Kreuz. Bei diesem Stand der unverrichteten Dinge wollte die Münchner Stadtverwaltung nicht länger auf neue Richtlinien des Staates warten und begann mit der Suche nach weiteren Möglichkeiten einer menschenwürdigen Unterbringung von monatlich bis zu 200 Flüchtlingen und Obdachlosen; so viele waren nun zu erwarten. Im Sozialreferat dachte man an leerstehende Büro- und Gewerberäume, aber auch an schnell montierbare Module. Bis zu 3000 warme Schlaf- und Wohnplätze in etwa 20 Unterkünften, verteilt auf alle Stadtteile, sollten auf diese Weise bis Ende 2014 nach und nach zur Verfügung gestellt werden. 125 Millionen Euro stellte die Stadt dafür bereit.

Das zweite „Hungercamp“ am Sendlinger Tor aber verschärfte die Situation erneut. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kommentierte hart: „Erpressung“. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) indes erbot sich vor Ort als Vermittler, wie es Vorgänger Hans-Jochen Vogel und Ex-Landtagspräsident Alois Glück schon am Rindermarkt getan hatten. Reiter versprach den Frierenden, er wolle sich bei Bundes- und Landesregierung für sie einsetzen und unverzüglich veranlassen, was in seiner Macht stehe. Die meisten der - offensichtlich auch gut beratenen - Protestierer ließen sich nun in Hotels oder Krankenhäuser bringen, einige Jüngere jedoch erkletterten umliegende Bäume, bis sie auch den letzten Widerstand entkräftet aufgeben mussten.

Jedoch: Schon wenige Tage später spitzte sich die Flüchtlingsfrage noch einmal zu. In einem Leitantrag zum bevorstehenden Parteitag der CSU in Nürnberg fiel ein Satz zur Migrationspolitik auf: "Wer dauerhaft hier leben will, soll dazu angehalten werden, im öffentlichen Raum und in der Familie deutsch zu sprechen." Wieder brach ein Sturm der Entrüstung los. Selbst der Münchner CSU-Bürgermeister Josef Schmidt, Politiker der CDU und hohe Kirchenvertreter rückten entsetzt ab von einer anscheinend beabsichtigten „Sprachpolizei“, während Ministerpräsident Horst Seehofer seine Hände in Unschuld wusch. So musste sein Generalsekretär schon drei Tage später klein beigeben: Natürlich sei alles ein Missverständnis; die Aufforderung, in der Familie Deutsch zu sprechen, sei nicht als Pflicht, sondern nur als "Motivation und Anregung" zu verstehen.

Die Stadt und zahllose Bürger reagierten anders auf die neue soziale, humanitäre und politische Herausforderung. „Eine Welle der Hilfsbereitschaft“ konnte die Münchner Sozialreferentin Brigitte Meier Mitte Dezember 2014 melden und eine Reihe von Projekten vorstellen. So wurde in der Bayernkaserne ein „Welcome Center“ eingerichtet und im eigenen Amtsgebäude am Ostbahnhof ein „Marktplatz“ zur ehrenamtlichen Unterstützung von Flüchtlingen. Schnelle Informationen vermittelten eine telefonische Hotline, eine Website und eine Beratungsstelle für wohnungslose Migranten unter Leitung der Rumänin Andrea Untaru. Sonst lag der Schwerpunkt auf Streetwork.

Viele Unternehmen, Stiftungen und Privatpersonen halfen mit Geld- und Sachspenden. Einige Adelige um Prinzessin Anna von Bayern besuchten die Flüchtlinge in der Bayernkaserne und brachten ihnen allerlei Notwendiges, von der Baby-Nahrung bis zu Wörterbüchern. Unterstützergruppen wie „Pro Asyl“ kümmerten sich um die rechtlichen Belange. „München heißt Flüchtlinge willkommen!“ verkündete das Münchner Bündnis für Toleranz, dem führende Persönlichkeiten der Stadtverwaltung, der Israelitischen Kultusgemeinde, der christlichen Kirchen, der Universität, der Gewerkschaften und des Kreisjugendrings angehören.

Die ganz große Flüchtlingswelle stand noch bevor – und damit ein neuerlicher, weltweit gewürdigter Beweis Münchner „Willkommenskultur“. Dass es ein weiteres Jahr später abermals zur Herausforderung kommen würde, war kaum abzusehen.

 

Dieser Rückblick basiert auf dem Buch „Minderheiten in München“ von Karl Stankiewitz, erschienen im Pustet Verlag. (Der zunächst hier angegebene Link auf das Buch „Außenseiter in München“ von Karl Stankiewitz wurde nachträglich korrigiert.)

 

Veröffentlicht am: 04.11.2016

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