Karl Stankiewitz über ein speziell bayerisches Thema
Das Kreuz mit dem Kreuz
Nicht in einer Amtstube, aber sicher auch im Sinne Söders: Das Gipfelkreuz auf der Hochalm bei Lenggries. Foto: Michael Grill
In wenigen Tagen wird in manchen bayerischen Amtstuben etwas anders sein als zuvor: Vom 1. Juni 2018 an gilt der sogenannte Kreuzerlass von Ministerpräsident Markus Söder (CSU), wonach in jeder staatlichen Behörde ein Kreuz zu hängen habe. Ein ähnliches Vorhaben der CSU, Kruzifixe in öffentlichen Räumen anzubringen, hatte in Bayern schon 1995 ein heftiges politisches und juristisches Gerangel hervorgerufen.
Ein Ehepaar im oberpfälzischen Nittenau wollte seinen Kindern den Anblick eines „männlichen Leichnams“ ersparen und reichte deshalb beim Bundesverfassungsgericht eine Popularklage gegen die bayerische Schulordnung ein, die das Anbringen von christlichen Kreuzen in allen Schulen ausnahmslos vorschrieb. Am 16. Mai 1995 stellten die Karlsruher Richter mit fünf gegen drei Stimmen fest, diese Bestimmung verstoße gegen das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit und gegen die staatliche Neutralität. Dem Urteil folgten Stürme der Entrüstung. Auf dem Münchner Odeonsplatz demonstrierten 25.000 Christen, darunter Ministerpräsident Edmund Stoiber.
Als Reakton auf das umstrittene Urteil beschloss der bayerische Landtag am 11. Dezember 1995 allein mit seiner CSU-Mehrheit: „Angesichts der kulturellen und geschichtlichen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht“. Es dürfe aber – so das neue Zugeständnis - im Einzelfall auf Verlangen von Schülern oder Eltern, das ausführlich zu begründen sei, entfernt werden. Daraufhin wurden beim Verfassungsgerichtshof in München drei Popularklagen eingereicht, die dieses sogenannte Kruzifix-Gesetz zu Fall bringen wollten.
Die mündliche Verhandlung verzögert sich, weil einer der Kläger, Vater einer zehnjährigen Augsburger Schülerin, einen Befangenheitsantrag gegen die Präsidentin des Gerichts einreichte: Hildegund Holzheid habe an einer Tagung der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung teilgenommen, auf der massiv gegen das umstrittene Karlsruher Kruzifix-Urteil polemisiert wurde. Ebenfalls für befangen hielt der Bund für Geistesfreiheit, Kläger Nr. 2, den Richter Ermin Brießmann, ehemals Vorsitzender des Landeskomitees der Katholiken, der als rigoroser Richter im Memminger „Hexenprozess“ nach eigenen Worten seine „Christenpflicht zum Ausdruck“ gebracht hat.
Die dritte Klage stammte von neun Landtagsabgeordneten der Grünen. Sie hatten zwar grundsätzlich nichts gegen das Kruzifix in den Schulen, verwiesen aber auf Artikel 107 der bayerischen Verfassung: „Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.“ Dem Bürger, dem das christliche Emblem im Klassenzimmer nicht gefalle, zwinge die gesetzliche Konfliktregelung geradezu ein „religiöses Outing“ auf. Die Intensität seiner Weltanschauung gehe aber niemanden etwas an. Dieser Meinung schloss sich die SPD an, sie verließ sich jedoch auf Karlsruhe als womöglich letzte Instanz.
Obwohl bereits Stellvertreter für die beiden beanstandeten Richter angereist waren, wurden beide Befangenheitsanträge von der Kammer ohne weitere Begründung abgelehnt. Und drei Wochen später erging das erwartete Urteil: Die Kruzifixe bleiben Pflicht in Bayerns Volksschulen. Dadurch werde der Raum für andere religiöse Überzeugungen nicht „unausweichlich eingeengt“, begründete die Gerichtspräsidentin Holzheid. Der Staat dürfe bei der „Ausgestaltung“ christlicher Gemeinschaftsschulen durchaus berücksichtigen, „dass in Bayern rund 90 Prozent der Bürger einer christlichen Kirche angehören“.
Die christliche Prägung Bayerns komme zum Ausdruck im Kreuz, das in der Bevölkerung seinen festen Platz habe, begrüßte Ministerpräsident Stoiber das Urteil – ähnlich argumentieren die CSU-Politiker auch heute. Die Grünen indes erkannten darin einen „übergroßen Einfluss“ der Christlichsozialen auf die Besetzung des Verfassungsgerichtshofs, der habe sich der massiven Einschüchterungskampagne von Staatsregierung und Mehrheitspartei nicht entziehen können. Drei weitere Verfassungsbeschwerden wurden nun auch vom Bundesverfassungsgericht, kurzerhand abgewiesen. Eine der Kläger prozessiert noch jahrelang - ohne Erfolg.
Im Freistaat Bayern jedenfalls blieb das Kreuz im Schulzimmer bis heute der „Regelfall“. Definitiv schien der Grundsatzstreit entschieden zu sein, als 2011 auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, dass Kruzifixe in Schulen keine Grundrechte verletzten. Ein Kernsatz aus dem Karlsruher Urteil könnte nun aber in der aktuellen Auseinandersetzung noch eine Rolle spielen: „Das christliche Kreuz ist kein lediglich kulturelles Symbol und kein überreligiöses Symbol für Humanität oder Barmherzigkeit. Es ist das Symbol einer bestimmten Religion.“