Karl Stankiewitz über das Sterben der Traditions-Gasthäuser
Zur Unkenntlichkeit modernisiert
Das seit langem beklagte Wirtshaus-Sterben begann auf dem Land, beschränkt sich aber inzwischen keineswegs auf ländliche Gemeinden. Auch in den Randbezirken Münchens schwinden immer mehr gastronomische und gesellige Traditionen. Gäste und Wirtsleute protestieren und versuchen, den Verlust an Wirtshauskultur aufzuhalten. Ob der Protest eine Chance hat, ist fraglich.
Matthias Neuner hieß jener Landwirt aus dem Loisachtal, der 1829 das prächtigste Gebäude im Dorf errichtete und als „Gasthaus zum Bayerischen Löwen“ ausbaute. Das schaffte der Hias dank eines Darlehens von dem Offizier, dessen Bursche er mal war. Möbel und Kochkunst brachten seine Braut, eine Münchner Metzgerstochter, mit in die Ehe. Außerdem besaß der Bauer eine Quelle im nahen Heilbrunn. Von dort holte er das jodhaltige Wasser in großen Odelfässern und richtete einen lukrativen, schier luxuriösen Badebetrieb in seinem Wirtshaus ein. Bald kamen hochwohlgeborene Gäste; Münchens Idyllen-Maler Carl Spitzweg, hinterließ sogar ein lustiges Gedicht.
Das Haus war Mittelpunkt des Dorfes; im Festsaal wurde getagt, getanzt und gefeiert. Ein späterer Wirt setzte der gewohnt bayerischen Küche ein Sahnehäubchen auf, er servierte Forellen aus dem Hausweiher und Lamm aus eigener Heidschnuckenzucht. Warum die Gaststätte, inzwischen im Besitz einer Münchner Großbrauerei mit großem Auslandsanteil, heuer mehrmals den Pächter wechselte, lässt sich aus der zweiten Folge herausschmecken. Jedenfalls übernahm im Juli 2018 ein Italiener, der daraus eine „Pizzeria L' Italiano“ machte. Aber schon im September folgte ein Serbe. Der beließ zwar den alten Namen und den Löwen über der Tür, firmiert aber jetzt als „ETNO Restaurant“ und preist „serbische Küche“ an. Cevapcici also statt Presssack. Schweinsbraten und dergleichen findet sich nicht mehr auf der Speisekarte (jedenfalls nicht bei unserem Sonntagabend-Besuch - oder soll das „Brez'nschnitzel in Preiselbeer-Rotweinsosse mit Spätzle“ heimische Kost sein?)
Ja, wo samma denn? Wir sind in Bichl, im Herzen von Altbayern-Süd. Der gesegnete Landstrich war einstmals gesäumt mit Tavernen aller Güte und Größe, aus welchen die schönsten Traditions-Gasthäuser hervorgingen. Denn entlang der oberen Isar und der Loisach hatte sich schon früh der Handels- und der Fremdenverkehr bewegt. Auch Goethe muss bei seiner Italienreise von 1786 inkognito durch Bichl kutschiert sein, erwähnt er doch, wenn auch kurz und kurios, das dicht daneben liegende Benediktbeuern; „Beneckt Bayern liegt köstlich!“
Diese Anlaufstellen bayerischer Köstlichkeit und Geselligkeit haben sich natürlich im Lauf vieler Jahre immer wieder den Bedürfnissen der Zeit angepasst, also verändert. Ludwig Steub grantelte 1862 darüber, dass immer mehr Wirte die traditionellen Namen (also Löwen, Bären, Ochsen usw., jeweils in Schwarz, Weiß, Rot oder Gold) durch ihren eigenen Namen ersetzten, so dass die „poetischen alten Wappentiere“ allmählich von den Wirtshausschildern verschwanden: „Oh, kehret lieber zu unseren historischen Bestien zurück, die uns viel kongenialer sind als eure eingebildete Wichtigkeit“, appellierte Bayerns erster Reisejournalist an Bayerns Wirte. Allgemein wünschte er sich „etwas Eigentümliches, Bergartiges, Alpenhaftes“.
Der Lenggrieser Fotograf Claus Eder, der in seinem „Buidleck“ allerlei Heimat-Historie sammelt und aufbereitet, hat sich unlängst die Mühe gemacht, 120 verschiedene Wirtschaften im südlichen Vorraum von München aufzusuchen und eine Auswahl in zwei Büchern im Eigenverlag zu dokumentieren. Mindestens neun dieser traditionsreichen Häuser haben in den letzten Jahren zugemacht oder, wie eben der Löwe von Bichl, ihre altbayerische Eigenart mehr oder weniger eingebüßt.
Aus is' und gar is' es auch mit dem Gasthof Grünerbräu, letzter der ehedem 22 Brauhäuser am Markt von Bad Tölz. Ludwig Steigenberger, ein früher Spross der heutigen Hoteliers-Dynastie, hatte das aus dem 17. Jahrhundert stammende Anwesen 1887 erworben und zur „Bieramme Münchens“ aufgepäppelt. So konnte er mit einem „vortrefflichen Stoff und reichhaltiger Küche“ werben. Das Eis für den Bierkeller sägte er im Winter aus dem Klammerweiher (welcher die Kinder von Thomas Mann später, im dortigen Sommerhäuschen, so sehr entzückt hat). 1997 wurde hier gar noch ein „Vollmondbier“ kreiert (Weißbier, bei Vollmond gebraut). Heute lockt nur noch ein „Gasthaus“ ohne weiterem Namen mit einer „Melange aus erstklassigen kulinarischen Genüssen“, samt Bar und Bühne.
Aus der Menue-Karte der Traditionshäuser von Bad Tölz zu streichen wären laut Eder auch das einst sehr beliebte Ausflugsziel Diana am Stadtrand und das Gasthaus zur Bieburg an der Straße nach Arzbach, wo derzeit ein neuer Pächter für den Kramerwirt gesucht wird. In Lenggries musste der Berghof einer Klinik weichen, außerdem starben der Gasthof zur Quelle, der erst den Benediktinern als Badehaus und später der Pelztierzucht gedient hat, und der Gasthof Blaue Traube, der 1870 eigentlich als Ärztehaus geplant wurde. Bei Gaissach ist neben dem Kirchlein zum abgebrannten Kreuz, das an den Pandurenüberfall von 1742 erinnert, der Kapellenwirt bis auf die Grundmauern abgebrannt und nie wieder aufgebaut worden.
Bayern wird ärmer: In den letzten 17 Jahren haben mehr als 3000 Schankgaststätten, überwiegend auf dem Land, für immer zugemacht, wie der Bayerische Hotel- und Gaststättenverband ermittelt hat. Von knapp 4400 Betrieben, die derzeit noch kochen und ausschenken, geraten jedes Jahr 500 weitere auf die Verlustliste. Jede vierte Gemeinde hat jetzt schon kein Wirtshaus mehr. Ein Trend wie in der Landwirtschaft, vergleicht die neue Dehoga-Präsidentin Angela Inselkammer, deren Familie in Aying einen Brauereigasthof sehr erfolgreich führt.
Schreckliche Vision: Dörfer ohne Bauern - Dörfer ohne Wirtshäuser. Stattdessen vielleicht Schnellkost im Gewerbepark, in Imbissstuben, in Sport- oder Vereinsheimen, deren Betreiber nur sieben Prozent Mehrwertsteuer zahlen und nicht 19 Prozent wie die professionellen Wirte.
Aus dieser Perspektive sieht man es: Der Bayrische Löwe in Bichl ist jetzt ein "Etno Restaurant". Foto: Thomas Stankiewicz
„Auf Dauer geschlossen“ hat, so zu lesen, seit 2017 der legendäre Weyprechthof in München-Obermenzing. Im Juni 2018 schloss das Wirtshaus am Hart (wo die Biermöslblosn und andere große Kleinkünstler gastierten; glücklicherweise fand sich soeben ein neuer, hoffentlich ebenso kreativer Pächter). In Aubing befürchten die Bürger den Abriss oder die „Umnutzung“ des Burenwirts. In Moosach ist das unter Denkmalschutz stehende Gasthaus Spiegel verwaist. In Gröbenzell verfällt der hundertjährige Grüne Baum. Während Münchens Innenstadt auch beim Verschwinden von Traditionshäusern rundum immer noch genügend Gastronomie aufweist (siehe Andechser am Dom), droht Dorfkernen und Stadtrandgebieten, wo es oft nur eine zentrale Gastwirtschaft gab, eine allmähliche Verödung. Schlimmer noch: Kulturverfall. Kürzlich hat eine vom Wirtschaftsministerium geförderten Studie des Instituts für Kulturgeografie der Universität Eichstätt das Wirtshaus nicht nur als „Knotenpunkt im dörflichen Geschehen“ qualifiziert, sondern auch als „veritable kulturelle Institution“, vergleichbar mit der – oft benachbarten – Pfarrkirche. Unbestritten sind im Übrigen deren sozialer, urbaner und folkloristischer Stellenwert.
Vielfältig, oft ineinander verwoben, sind die Ursachen für den anhaltenden Verfall dieses Stücks Heimatkultur. Die Uni-Studie macht, recht allgemein, eine „radikale Marktbereinigung“ verantwortlich. Die wiederum hat ein ganzes Bündel von Gründen: 90 Prozent unserer Wirtschaften sind Familienbetriebe. Viele Wirte aber wollen im Alter ihren Beruf nicht mehr ausüben, zumal sie sich von ständig neuen Auflagen, allzu viel Papierkram und einer hohen Steuerklasse bedrängt fühlen. Auch ihre Söhne und Töchter lassen sich kaum durch die manchmal unmenschlichen Betriebsabläufe locken.
Neue Pächter sind dann schwer zu finden. Sie sind womöglich radikale Modernisierer oder kaum an bayerische Lebensart angepasste Zuwanderer. Daher bleiben Stammgäste aus. „Ich gehe gerne zum Italiener oder Vietnamesen, aber doch lieber in ein Wirtshaus mit guter bayerischer Küche und dem manchmal etwas direkteren Umgangston,“ sagt Anselm Bilgri, der frühere Kloster- und Gastro-Manager und Unternehmensberater, in einem Kurzkommentar für eine Zeitung.
Warum trifft es nun auch und vor allem Traditions-Gasthäuser? Bei dieser Frage kommen Investoren, und Brauereien ins Spiel. Und Gesetze des kapitalistischen Marktes. Man setzt vorrangig auf Rendite und weniger oder gar nicht auf Tradition. „Maximum ist aber nicht das Optimum“, mahnt Bilgri. Mitverantwortlich macht der an Ethik gewohnte Experte unsere veränderte Kommunikations- und Gesprächskultur: „Der gepflegte Ratsch der Stammgäste, denen die Wirtsstube das eigentliche Wohnzimmer war, ist dem bequemen Fernsehsessel, dem Laptop und dem Smartphone gewichen. Eine gewisse Schuld trägt auf dem Land sicher das Rauchverbot. Der Landwirt hat daheim gegessen - zum Trinken, Reden und Rauchen ging er ins Wirtshaus.“
Vor einiger Zeit gingen sie auf die Straße, die geplagten Wirtshäusler. „Es ist an der Zeit ein Zeichen zu setzen,“ plakatierten Frauen aus der Branche im März 2018 bei einem „Trauermarsch“ durch die Innenstadt. Vor Markus Söder demonstrierten 3000 Gastronomen; der Gründer eines Heimatministeriums stieß denn auch sofort ein „Programm Heimatwirtschaften“ an und versprach 20 Millionen Euro für Modernisierungszwecke. Zusammen mit dem Wirtschaftsministerium bietet der Gaststättenverband eine kostenlose „Blitzlichtberatung“ an. Hier bekommen Dorfwirte betriebswirtschaftliche Nachhilfe und praktische Tipps, wie sie ihre Gaststuben beleben könnten, beispielsweise durch einen Mittagstisch für Senioren.
In München hat die ÖDP-Fraktion im Stadtrat eine Anfrage laufen, die dem Erhalt von Gastwirtschaften als „Zentren des sozialen und kulturellen Lebens“ gilt. Denn diese trügen erheblich zur Wahrung und Weiterentwicklung der Identität der Münchner Stadtteile bei. Insbesondere geht es um „Traditions-Gaststätten, deren Räumlichkeiten von einer Nutzungsänderung bedroht sind“. Leo Meyer-Giesow vom Bezirksausschuss Milbertshofen erwartet bis zum 14. Dezember eine grundsätzlich positive Antwort von der Stadtverwaltung. Denn im April 2018 hat das Referat für Stadtplanung und Bauordnung zum Fall Weyprechthof bestätigt, „dass die Festsetzung der Schank- und Speisewirtschaft im Erdgeschoss zwingenden Charakter hat“. Geplant ist hier ein Hotel.
Dass mit einer solchen „Festsetzung“ in der Bauplanung die eigentliche Tradition, das Besondere, das Bayerische eines gewesenen Gasthauses noch längst nicht gewährt ist, weiß auch ein ökologischer Demokrat wie Meyer-Giesow. Letztlich sind doch wieder die Wirte gefragt. „Tradition bedeutet nicht, die Asche bewahren, sondern das Feuer weiterzugeben“, meint der ehemalige Pater und Wirt Anselm Bilgri. Er hofft auf eine neue Generation von Wirtsleuten, „die im Blut das Feuer haben, das man braucht, um mit Hingabe Gäste zu bewirten“.
Rettung winkt dem bayerischen Wirtshaus vielleicht erst dann, wenn sich überall in der Gesellschaft das Bewusstsein verbreitet, dass diese Traditionsträger ebenso zur Geschichte und Kultur unseres Landes gehören wie der Bauer auf dem Bauernhof, das Kruzifix in den Amtsstuben und das Amen in der Kirche.
Karl Stankiewitz hat kürzlich das Buch „Aus is und gar is“ im Allitera Verlag herausgebracht. Die erwähnten Bücher „Traditionelle Wirtschaften im Süden von München“ und „Das Leben im Isarwinkl“ sind erhältlich bei Claus Eder, Marktgase, 73661 Lenggries. 0842 / 91 78 0.