Karl Stankiewitz über den Münchner Nudismus
Mit nackter Militanz zum Paradies
München ist in Aufruhr, denn es gibt mal wieder "Ärger um Nackerte". Die jüngsten, umstrittenen „Maßnahmen“ von Ordnern gegen Frauen, die oben ohne badeten, erinnern an eine Zeit, als München ein europäisches Paradies der Nackten war.
Die Jugendrevolte von 1968, die sich nicht zuletzt als „sexuelle Befreiung“ verstand, hatte die Beziehung zum Körper verändert, das heißt sehr gelockert. Der Aufbruch zu neuen Ufern der Gesellschaft riss insbesondere im dynamischen München die Umzäunungen ein, hinter denen sich die „Naturisten“ bislang schamhaft im „Lichthemd“ getummelt hatten. An den innerstädtischen Uferstreifen der Isar und des Eisbachs, auf den Liegewiesen im Englischen Garten, ja sogar im aufgelassenen Nordfriedhof tauchten sie plötzlich auf, erst einzeln, dann in Massen. Ungeniert trieben die „Nackerten“, wie sie alsbald in den Zeitungen geradezu bejubelt und gerne abgebildet wurden, eine neue, ungeregelte Art von Freizeit- und Freikörperkultur oder – in anderer Sicht - von Exhibitionismus.
So gedieh München in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren zu einer Art Paradies. Beileibe nicht nur junge und schöne Menschen spielten Adam und Eva in aller Offenheit. Sie grillten ihre entblößten Körper im Gras, im Kies, auf Sand- und Betonbänken. Sie schwammen, ruhten, radelten, ruderten so, wie Gott sie geschaffen hatte. Sie spielten Ball oder spazierten neben bekleideten Passanten einher. Schnell verschwand die Scham, angesagt war Toleranz. Einige freche Buben und Mädchen entdeckten einen besonderen Kick: Sie warfen sich an der Prinzregentenstraße, wo jetzt die Surfer bestaunt werden, in die Strömung. Am Tivolipark, bevor der Eisbach über ein Gefälle stürzte, stiegen sie ans Ufer und direkt in die Trambahn ein, um zum Startplatz ihrer Schwimmstrecke zurückzufahren; ans Bezahlen dachten sie nicht, denn Nackten kann man bekanntlich nicht in die Tasche greifen. Das gefiel schon damals nicht allen.
Als „nackte Unkultur“ beschimpfte der Katholikenrat die große Entkleidungswelle im Stil von Sylt; dort auf der Insel war sie allerdings noch auf Besserverdienende und Kulturträger beschränkt, während sich die Münchner klassenlos auszogen. Von den Gewässern der Isar her schwappte die Nacktwelle bis zum großen Brunnen am Stachus über. Und sogar in den riesigen Biergarten am Chinesischen Turm sowie in den aufgelassenen Schwabinger Nordfriedhof tröpfelten Einzelne hüllenlos hinein. Als „nackte Militanz“ rügte Freiherr von Crailsheim, Generaldirektor der Staatlichen Seen und Gärten, den offenbar unaufhaltsamen Einbruch der Nackten in sein Revier. „Nächstes Jahr gehen’s in die Oper“, zitierte ein Spiegel-Reporter, der sich unbedeckt unter die Nackten gesellt hatte, einen der zahlreichen „Luager“ (Voyeure), die teilweise mit Ferngucker oder Videokamera die Szene besichtigten. Bald trieben sie es noch toller, „noch ausg’schamter,“ wie immer mehr Münchner grantelten.
Eine Zeitungsumfrage erkannte damals, dass sich 62 Prozent der Männer und 49 Prozent der Frauen durch die Invasion der Kleiderlosen gestört fühlten. Genauere Nachfragen enthüllten indes, dass man und frau weniger um die Moral besorgt war, sondern eher ästhetische Vorbehalte hatte. Dem Sprecher des Katholikenrats waren „diese pendelnden Penisse“ ein peinlicher Anblick. Immer weiter drangen die Nackten hinaus ins Land. Am Feldmochinger Baggersee wurde im Juli 1982 einer der Freikörperkulturrevolutionäre beschossen. Und der Bürgermeister einer Umlandgemeinde stellte Kübel voller Jauche für „de Saubär’n“ bereit. Mangels Personal konnte die Polizei die unbekleideten, weit verstreuten Massen kaum noch unter Kontrolle halten. Spielverderber wollte man auch nicht sein. Wer außerhalb der acht „Toleranzzonen“, die am 7. Juli 1982 festgelegt wurden, mit blanker Haut von Kopf bis Fuß ertappt wurde, bekam lediglich eine Belehrung. Erst beim zweiten Mal musste man/frau 50 Mark Bußgeld berappen. Dieses Münchner Paradies wurde eine weltweit bekannte Attraktion. Ganze Busse von Touristen kamen zur großen Nuditäten-Show, sie konnten sich so das teure Striptease-Lokal sparen. Sogar die Kronprinzessin von Thailand soll bei einem Bayern-Besuch um einen Abstecher zur Nudistenwiese gebeten haben, was ihr das Protokoll aber ausreden konnte. Jetzt berichtete sogar ein amerikanisches Nachrichtenmagazin über „the Munich Nudists“ und stellte vergleichsweise fest, keine andere Stadt in Old Europe würde eine derartige Zurschaustellung nackter Tatsachen tolerieren. Und derselbe norddeutsche Berichterstatter wie 1981 kam vier Sommer später zu der Erkenntnis: „Aus dem katholischen München wurde die Hauptstadt eines schweigenden Volksbegehrens nach ganzheitlicher Besonnung.“
Die erreichte dann im Jahr 1985 ein Ausmaß, dass die uniformierten Ordnungshüter immerhin 154 Platzverweise aussprechen und 41 Anzeigen aufnehmen mussten. Für 1986 wurden schärfere Kontrollen angekündigt. Schlagzeilen alarmierten: „Polizei jagt Nackte“. Ein grüner Stadtrat behauptete sogar, einige der textilfreien Frauen und Männer seien in Handschellen abgeführt worden, was er jedoch zurücknehmen musste. Die für die freie Freikörperszene freigegebenen Zonen wurden schließlich amtlich festgelegt; fortan sollten nur noch auf sechs Plätzen „paradiesische Zustände“ herrschen. 1800 Merkblätter wurden im Sommer 1986 an potenziellen, aber nicht legalen Nacktbadeplätzen verteilt. Der Junglehrerverband hielt ein weiteres Merkblatt zum „pädagogischen Verhalten in FKK-Bereichen“ parat: Lehrer sollten sich hinter Gebüsche zurückziehen, um peinliche Begegnungen mit unangezogenen Schülern zu vermeiden.
Nach gegenwärtigem Stand sind 14 Bereiche im Stadtgebiet vom generellen Nacktbadeverbot ausgenommen: fünf Uferabschnitte der Isar und zwei am Feldmochinger See, je einer im Englischen Garten und im Forstenrieder Park, wo allerdings aufs Wasserbad verzichtet werden muss; auch in sechs städtischen Frei- und Hallenbädern wurden FKK-Zonen ausgewiesen. Das größte und beliebteste „Paradies“ befindet sich im Gemeindegebiet von Unterföhring: Bis zu 6000 Nackerte tummeln sich an heißen Tagen auf der Halbinsel des 32 Hektar großen Feringasees. Gaffer nutzen den zwei Kilometer langen Rundweg gern als Aussichtspromenade. Das Spanner-Problem – das mit Susanne und den beiden Alten schon in der Bibel auftaucht - verschärfte sich hier, als die Arbeiterwohlfahrt in der Nähe eine Traghalle für 300 männliche Flüchtlinge erstellte. So musste man denn das lauschige FKK-Revier durch eine Sichtschutz-Schleuse mit mehrsprachigen Hinweisen und deutlichen Piktogrammen gegen unerwünschte Blickkontakte abschirmen.
Dieser Beitrag stützt sich großenteils auf das in der edition buntehunde erschienene Buch „Badelust in München & Oberbayern“ von Karl Stankiewitz.