Karl Stankiewitz über "seine" Partei

Warum ich die SPD verließ (und ihr dennoch treu blieb)

von Karl Stankiewitz

Karl Stankiewitz. Foto: Gelbmann

Journalisten mit Parteibuch sind grundsätzlich verdächtig, ich weiß. Werden ihnen doch absolute Unabhängigkeit und strikte Objektivität abverlangt. Deswegen lassen sie sich selbst auch ungern als „links“ oder „rechts“ verorten. Allenfalls als „liberal“ geben sie sich zu erkennen, aber das hat nichts mit einer politischen Partei zu tun,  sondern eher mit der Tradition des deutschen Zeitungswesens.

Mitgliedschaft in einer Partei bleibt für unsereinen tabu. Ich mache nun, mit 91, eine Ausnahme, ich bekenne, dass ich einmal Mitglied der SPD war. Das gegenwärtige Drama um Führungswechsel und schwelendem Koalitionskrach drängt mich, meine Beziehungen zu dieser Immer-noch-Volkspartei, meine Erfahrungen und Schlussfolgerungen zu reflektieren. Eingetreten war ich 1967. Warum? In jenem Jahr begann der gesellschaftliche Umbruch. München erlebte große Demonstrationen gegen den Bundeskanzler Kiesinger (erst NSDAP, dann CDU), gegen den schmutzigen Krieg der Amerikaner in Vietnam, gegen einen autoritären Staatsgast aus Persien, gegen die Hierarchen in Zivil, Uniform oder Talar.

Die Millionenstadt brodelte – und baute und wurde modern. Dann 1968 und die Folgen... Zeiten des Wandels sind Zeiten des Mitmachens und Umdenkens. Ich dachte an meinen Vater, der nach dem vor Verdun erlittenen Erstweltkrieg als Funktionär der Christlichen Gewerkschaften in Essen für seine Bergarbeiter gekämpft hatte. Politisch war er im (katholischen) Zentrum aktiv, war mit Jakob Kaiser befreundet, der nach dem Zweitweltkrieg die CDU mitgründete, die in ihrem Erstprogramm noch den Kapitalismus verdammte. Vater starb im ersten Kriegsjahr an einem Gehirnschlag, nachdem er uns siegestrunkenen Kindern noch den Zusammenbruch vorausgesagt hatte. Engagieren ja, aber wo? Die heimische CSU, deren Vorsitzender Strauß so viele Skandale produziert hatte und aufmüpfige Jugend als „Viecher“ oder „Linksfaschisten“ beschimpfte, war trotz väterlichem Vorbild keine Option.

Also SPD, die München-Partei, deren 40jähriger Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel die Millionenstadt gerade für die Olympischen Spiele umkrempelte und deren akademische Jugend auf die Barrikaden stieg. Inzwischen war mir aufgefallen, dass nicht wenige meiner örtlichen Kollegen durchaus Parteien zuneigten. Die meisten Sympathien unter den Korrespondenten und Reportern genossen die Großparteien. Mein Freund Heini Kaltenegger, dpa-Nachrichtenjäger Nr.1, war mal Sprecher der von der CSU abgewürgten Bayernpartei. Akkrediert waren auch zwei junge Kommunisten, die DDR-Medien belieferten und nicht selten observiert wurden. Zu allen hatte ich einen guten Draht. Manches Glas Rotwein trank ich sogar mit Franz Schönhuber, bevor ich zu seinem Sturz als Vorsitzender des Bayerischen Journalistenverbandes beitrug, weil er sich stolz zur Waffen-SS-bekannte – und bald als Frontmann der „Republikaner“ nach rechtsaußen marschierte.

In der neuen politischen Heimat, in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sektion Lehel, fühlte ich mich allerdings nicht gleich richtig „dahoam“. Das Ambiente erschien mir ein bisschen altmodisch, manchmal spießig. Die älteren Genossen, die ins Haus kamen, um den Beitrag zu kassieren und das Parteibuch abzustempeln, das Singen kämpferischer Arbeiterlieder bei Feiern, das nicht immer ehrliche Zwangsduzen – dies und anderes Gehabe war nach meinem Geschmack nicht gerade der „Aufbruch in die neue Zeit“, wie er beim jüngsten Parteitag nicht zum erstenmal angesagt war. Dennoch erschien ich fast regelmäßig zu den Sektionssitzungen in verräuchterten Wirtshausnebenräumen, meldete mich gelegentlich, nicht oft zu Wort. Brav trug ich Flugblätter aus und klebte sogar Plakate. Meine journalistische Arbeit wurde dadurch nicht im Geringsten beeinflusst. Weiterhin berichtete ich als Korrespondent für auswärtige Zeitungen und für Erich Hartsteins eigenwilligen „Münchner Stadt-Anzeiger“ sachlich-kritisch über meine Partei. Zum Beispiel im Februar 1971, als junge Revoluzzer im Rollkragenpulli den Reformer Vogel im Hofbräuhaus zur Rotglut und schließlich zum Amtsverzicht trieben. Oder 1974, als Stadtverantwortliche linken Genossen lukrative Gutachter-Aufträge zuschanzten. Meine Kenntnisse aus dem Innenleben der Partei waren nützlich. Im Februar 1992 wurde mir eine „Ehrenurkunde SPD“ überreicht, knallroter Einband mit schwarz-rot-goldener Kordel. „25 Jahre in Treue unserer Partei verbunden“, hieß es darin, unterschrieben von Hans-Jochen Vogel, der inzwischen oberster Parteivorsitzender war. Und die Vorsitzende der inzwischen Ortsverein genannten Sektion dankte handschriftlich für mein „langjähriges Engagement“. Sie dankte „in Freundschaft“.

Diese Partei hat Schwierigkeiten beim rationalen Denken

Keine vier Jahre später gab ich mein Parteibuch zurück. Warum? Im Laufe der Jahre hatten mich allerlei Erfahrungen irritiert, frustriert, entfremdet. Vorgänge, die mir symptomatisch für die Befindlichkeit der SPD erschienen. Vor allem drei Mängel, die dem Parteivolk und vereinzelt auch Funktionären möglicherweise bis heute anhaften, haben mich resignieren lassen: Schwierigkeiten erstens beim rationalen Denken, zweitens beim Suchen von starken, volksnahen Führungskräften und drittens beim Einschätzen von politischen Entwicklungen. Kurzum: Es ging - und geht - um Diskussionen, Personen und Visionen.

Zu 1: Immer mehr wurden die Versammlungen dominiert von Jungsozialisten, meist Studenten. Bis spät in die Nächte hinein diskutierten sie – in volksfremder Sprache – den Kampf gegen Establishment und Kapitalismus. Bald waren sie unter sich, denn viele Altgenossen zogen sich zurück. Rationalen Argumenten und Kompromissen waren die neuen Mitglieder kaum zugänglich. Zum Beispiel wollten sie unter keinen Umständen einen U-Bahnhof im Lehel, weil dann ringsum der Kommerz erblühen würde. Mein Bruder Alfred erlebte es ähnlich. Als Bezirksausschussvorsitzender von Großhadern engagierte sich der Siemens-Physiker für eine U-Bahn zum neuen Großklinikum; den Jusos genügte der Bus. Systematisch verhinderten sie die Stadtrats-Wahl meines Bruders, der bald, wie Vater, einem Schlaganfall erlag. Zu 2: Bei einer Mitgliederbefragung darüber, wer Kanzlerkandidat der SPD werden sollte, bekam Rudolf Scharping aus dem Westerwald 1993 eine relative Mehrheit. Wie viele andere hielt ich ihn für zu schwach und wählte den Gegenkandidaten Gerhard Schröder, der mir bei einer Münchner Juso-Konferenz als zupackender Nachwuchspolitiker aufgefallen war. Das Fiasko mit dem Erkorenen ist eines der unschönen Kapitel in der SPD-Geschichte. Soll das nun so fortgesetzt werden mit  gewählten Vorsitzenden? Übrigens plagt mich spätestens seither ein gewisses Misstrauen gegenüber Mitgliederbefragungen und allgemein Volksbefragungen – nicht jedoch gegen gewaltfreie Volksbewegungen. Zu 3: Auch der Umgang mit den Grünen gehört zur Negativbilanz der SPD -  und zu meinen Austrittsgründen. Kaum nämlich hatte der Neuling, ein Sprössling vom eigenen Stamm, erste Mandate erobert, da wurde er ausgerechnet vom sonst so gescheiten SPD-Vordenker Peter Glotz, München, als „Eintagsfliege“ abgetan. Die Kurzsichtigkeit ging so weit, dass sich die noch lange nicht angegrünten Sozialdemokraten im Bundestag bis 1994 hartnäckig weigerten, die seriöse Antje Vollmer zur Vizepräsidentin mitzuwählen. Wie sollten diese Sozialdemokraten, denen Helmut Schmidt die Visionen eines Willy Brandt endgültig austreiben wird, damals auch ahnen, dass das frische Grün dereinst mit dem alten Rot gleichziehen könnte?

Trotz alledem bin ich meiner ehemaligen SPD doch nicht ganz untreu geworden. Bei jeder Wahl noch habe ich ihr und nur ihr mein Kreuzchen gegeben. Nicht unbedingt immer wegen ihrer aktuellen Politik. Sondern weil diese Partei in schwierigsten Zeiten immer wieder und ohne Rücksicht auf Popularität die Verantwortung für dieses Land übernommen hat: vom November 1919 nach verlorenem Krieg, bitterer Not und internationaler Ausgrenzung bis zum November 2017 nach jämmerlichem Scheitern der „Jamaika-Koalition“. Und auch, weil so viele große Ideen, so viele große Männer und Frauen aus dieser alten Partei des Volkes hervorgegangen sind. In diesem Sinne und in gewesener Freundschaft wünsche ich meiner ehemaligen Partei baldige Gesundung und meinen ehemaligen Genossen - nachträglich - frohe Weihnachten!

Dazu neu von Karl Stankiewitz: "Münchner Meilensteine. Ein Reporter blickt zurück auf sein 20. Jahrhundert." Verlag Attenkofer

Anm. d. Red. (30.12.2019): Eine Helmut Schmidt zugeschriebene Jahreszahl am Ende des vorletzten Absatzes wurde entfernt.

Veröffentlicht am: 28.12.2019

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