Karl Stankiewitz über die Hongkongrippe 1969-70 in Bayern
Mit Pillen gegen die Pandemie
Die sogenannte Hongkong-Grippe in den Jahren der Münchner „Revolte“ hatte manche Ähnlichkeit mit der Corona-Seuche. Betroffene erinnern sich: „Wir kamen von einem Skiwochenende zurück. Mein Mann dachte, er habe sich dort erkältet. Er bekam hohes Fieber und lag total flach. Mit Wadenwickel haben wir das Fieber etwas gebändigt. Bettruhe war damals die Heilung.“
So erinnert sich die Münchnerin Dorle Doerfert an eine Pandemie, die 1969 bis 1970 auch in München grassierte. Auch sie kam aus China, genauer: aus der damaligen britischen Kronkolonie Hongkong, von der sie ihren Namen hatte. Auch sie war anscheinend aus Skigebieten nach Deutschland übergesprungen - hier trat sie vier Wochen nach dem höchsten Krankenstand in Österreich und der Schweiz auf.
Auch die Hongkong-Grippe stellte die Gesundheitssysteme in beiden deutschen Staaten vor große Herausforderungen. Trotz der eng verwandten „Asiatischen Grippe“ von 1957 mit weltweit ein bis zwei Millionen Todesopfern hatte man wenig Erfahrung mit der neuen Influenza-Virusart, der man die komplizierte Bezeichnung A1/1968 H3N2 gab. Obendrein mangelte es überall an entsprechend geschultem Personal sowie an Krankenhausbetten. Alle Kliniken seien „randvoll belegt“, meldete das Münchner Krankenhausreferat. „Wir mussten bereits 180 Notbetten auf den Gängen aufstellen.“ Auch 30 Prozent der Schwestern seien erkrankt. Mitte Dezember 1969 hatte die Hongkong-Grippe das Land Bayern voll erfasst. Genaue Zahlen über die Infizierten konnten damals allerdings noch nicht ermittelt werden. Professor Werner Anders vom Bundesgesundheitsamt in Westberlin gab immerhin bekannt, dass die Erkrankungsrate doppelt so hoch sei als bei früheren Grippewellen. In manchen Betrieben erreiche sie sieben bis zehn Prozent der Beschäftigten, bei einem hohen Frauenanteil noch mehr.
Nach einer Umfrage der Deutschen Presseagentur in Bayern mussten 800 Notbetten auf Gängen, in Tagesräumen und Ärztezimmern aufgestellt werden. Die Lage sei überall ernst, in München aber „hoffnungslos“, hieß es in einem Bericht. In München wurden die niedergelassenen Ärzte aufgefordert, bei Klinikeinweisungen strengste Maßstäbe anzulegen. Gegen den Widerspruch von Chefärzten wurden Grippekranke sogar in Zimmer der ersten Klasse eingewiesen. Vor allem fehlten genügend und geeignete Medikamente. „Unsere Lager waren leer, die des Großhandels auch“, erinnert sich Lili Pflanz in einer Umfrage, die der Münchner Stadtteilforscher und -führer Rudolf Hartbrunner auf Anregung des Reporters bei seinen Bekannten durchgeführt hat. Die damals 21 Jahre alte Apothekenhelferin musste nach Dienstschluss ins Umland fahren, um dringend benötigte Antibiotika, Hustensäfte und fiebersenkende Mittel zu besorgen. Auch Richard Allmis war als Lehrling in einer Apotheke am Goetheplatz gefordert. Er erinnert sich, dass der Chef allen Mitarbeitern „Pillen“ gab, „um den Krankenstand in den Griff zu bekommen“. Eine Frau berichtet in der Münchner Umfrage von ihrem Mann, einem Offizier der Luftwaffe, den man nach der Virus-Erkrankung mit Nahrungsergänzungsmitteln „behandelt“ habe.
An den schlimmsten Jahreswechsel seines Lebens, dem von 1969 auf 1970, erinnert sich Winfried Birner: „Meine Familie, bestehend aus Mutter, Vater und mir, lag mit hohem Fieber im Bett. Dieses Mal war es so schlimm, dass keiner das Haus nicht verlassen konnte und eine Nachbarin für uns einkaufen ging und uns verpflegte.“ Hinderlich bei der Bekämpfung - und der Analyse - dieser Pandemie war in Deutschland die föderale Struktur, während in der DDR die Eindämmung zentral gelenkt wurde. Impfungen fanden in West wie in Ost nur zurückhaltend statt. Die Zahl der Todesopfer konnte nur hochgerechnet werden: ein bis zwei Millionen weltweit, rund 40.000 in der Bundesrepublik Deutschland. München kam mit 16 Toten infolge der Hongkong-Grippe noch verhältnismäßig gut davon. (Genau 16 Korona-Tote zählte München bereits am 6. April 2020.)
Die Journalistin Rosemarie Elsner verlor ihren Vater und ihren Großvater, beide waren schwer erkrankt gewesen. Damals erzählte ihre Mutter immer wieder von der „Spanischen Grippe“, an der ihre Mutter im Oktober 1918 innerhalb weniger Tage verstorben war. Obwohl München also bei der Sterberate verhältnismäßig glimpflich davon kam, mussten die Bestatter Überstunden machen, weil viele ihrer Kollegen ebenfalls erkrankt waren. Um ein weiteres Ausbreiten des Virus zu verhindern, wurden die Weihnachtsferien 1969 um eine Woche verlängert.
Die meisten der befragten Münchner jedoch erinnern sich heute nicht mehr an die Seuche, die aus dem fernen Osten kam. Im Stadtbild fiel sie jedenfalls nicht auf. „Es gab ja noch keinen Mundschutz,“ schreibt Lilli Planz. „Ich war jung und hatte andere Interessen.“ Die Anzahl der Grippetoten 1969/70 sei damals nur von epidemiologisch interessierten Ärzten überhaupt bemerkt worden, sagt der damalige Assistenzarzt Ernst Theodor Mayer, der im März 1969 zusammen mit anderen Jungärzten zum Aufstand gegen die „Hierarchie und Repression“ der acht medizinischen Ordinarien aufgerufen hatte. Überhaupt waren die „Studentenrevolte“ und ihre Nachwirkungen ein viel wichtigeres Pressethema als die vermeintlich gewöhnliche „Grippewelle“. Die Wissenschaftler äußerten ihre Erwartung, dass diese Pandemie bis zum Winter 1970 dermaßen große Bevölkerungsgruppen durch Antigene immunisiert habe, dass die Verbreitungswelle des Virus nachlassen oder ganz enden würde. Und so kam es dann auch. Aus dem Bayerischen Innenministerium wurden eines Tages nur noch „Resterkrankungen“ gemeldet, besonders von älteren Patienten. Jedoch, man möge die Betten „nicht zu früh verlassen“, weil eventuelle Spätfolgen sehr hartnäckig seien. In Fachkreisen kursierte indes die schlimmere Befürchtung, dass sich aus dem Hongkong-Stamm-Erreger in absehbarer Zeit ein anderes, gefährlicheres Virus entwickeln und erneut weltweit ausbreiten könnte.. .
Grippewellen gehören im Grunde bis heute zum Münchner Jahreslauf wie die Starkbierfeste im Frühling, mit denen sie in der Regel zeitlich zusammentreffen. Im Mai 1981 schien man die regelmäßige Bedrohung endlich in den Griff zu bekommen. Auf einem Symposium der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten berichtete Tagungspräsident Friedrich Deinhardt von einem neuen Chemotherapeutikum, das bisher gegen Parkinson eingesetzt wurde und nun auch gegen die Influenz zu wirken schien. Professor Deinhardt hatte in den USA einen Impfstoff gegen die Hepatitis A entwickelt. Das Max-von-Pettenkofer-Institut der Universität München, das er 15 Jahre lang leitete, galt als führende Hygiene-Institution der Republik. Patentrechtliche und organisatorische – und wohl auch medizinische Probleme verhinderten jedoch eine „Grippe-Pille“, wie sie Deinhardt – quasi Vorgänger des Corona-Virologen Christian Drosten - damals vorschwebte. So blieb weiterhin nur die Schutzimpfung für alle Risikopatienten mit gewissen Vorerkrankungen zu empfehlen.
Zwischen Februar und April 1984 waren die Arztpraxen wieder einmal voll. In einigen Ländern der alten Bundesrepublik erzwang die Epidemie sogar die Schließung von Schulen. Was war geschehen? Laboruntersuchungen zeigten eine deutliche „Drift“ von den Stämmen der Vorjahre. Deshalb mussten die bekannten Impfstoffe versagen. Das Grüne Kreuz und die Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten waren beunruhigt und riefen nach München. Doch 600 Experten konnten auch nur feststellen, die Influenza sei „die letzte bisher unbesiegbare Seuche der Menschheit“. Das Problem sei die außergewöhnliche Fähigkeit der Viren, sich zu verändern und so eine bereits erworbene Immunität zu unterlaufen. Für die nächste Saison wurde eine Variante empfohlen, die einem im Vorjahr in der Sowjetunion aufgetretenen Virus-Typ entsprach.
Mit dem weltweiten Tourismus drangen dann neue, „exotische“, teilweise tödliche Viren in Europa ein. Nach Auftreten des ersten Ebola-Virus aus Uganda in Marburg herrschte hierzulande Alarmstimmung. Die fand ihren Niederschlag im April 1995 in einem internationalen Symposium über „importierte Virusinfektionen“, wieder in München. „Wo Regenwald gerodet wird, kommen die Menschen plötzlich in ungewohnten Kontakt mit bestimmten Tieren“, warnte der Mikrobiologe Tino F. Schwarz vom Max-von-Pettenkofer-Institut. Insbesondere Insekten und Nagetiere wurden als wahrscheinliche Überträger genannt. Die ersten Symptome waren meist heftige Kopf- und Gelenkschmerzen.
Dazu neu von Karl Stankiewitz: "Münchner Meilensteine. Ein Reporter blickt zurück auf sein 20. Jahrhundert." Verlag Attenkofer
Außerdem schreibt Karl Stankiewitz ein Corona-Tagebuch (bisher zwei Folgen) in der Bayerischen Staatszeitung.