Karl Stankiewitz über Hildegard Hamm-Brücher, die am 11. Mai hundert Jahre alt geworden wäre

Wie das "Haupt des Linksliberalismus" einst kämpfen musste

von Karl Stankiewitz

Hildegard Hamm-Brücher. Foto: Detlef Gräfingholt / Bundesarchiv B 145 Bild-F049586-0015, Frankfurt, FDP-Bundesparteitag, Hamm-Brücher, Baum (Ausschnitt), Wikipedia-Lizenz (CC-BV- SA 3.0)

Von allen Seiten, besonders von der rechten und manchmal auch aus der eigenen Partei hat sie Sticheleien, Beleidigungen und Prügel einstecken müssen. Doch sie hat auch kontern können. So war bereits, nachdem Dr. Hildegard Brücher im Mai 1948, angeregt durch den späteren Bundespräsidenten Theodor Heuß, für die FDP in den Münchner Stadtrat gewählt wurde.Sie war mit gerade 27 Jahren jüngstes Mitglied dieses Altherrenclubs, Wissenschaftsredakteurin unter Erich Kästner bei der amerikanischen „Neuen Zeitung", jedoch obendrein: eine Protestantin und, wie man spöttelte, „a Preiß“, obgleich sie in Essen geboren wurde, am 11. Mai 1921 - zwei Tage nach Sophie Scholl.

Nun standen die 100. Geburtstage der beiden tapferen Frauen an. Mit dem Umkreis der Weißen Rose kam die 22-Jährige in Kontakt, als sie in München Chemie studierte. Ihr Doktorvater, der auch von den Nazis anerkannte Nobelpreisträger Heinrich Wieland, konnte sie vor der Gestapo schützen. München blieb ihre Hauptwirkstätte. Für ältere Stadträte war sie erstmal nur „das Madl“ (ähnlich wie für einen Bundeskanzler seine spätere Nachfolgerin). Ein CSU-Kollege belegte sie sogar mit dem Spottnamen „Krampfhenne“ (den schon Hitler unter Bezug auf den britischen Außenminister für angebracht hielt).

1954 heiratete Hildegard Brücher den Krankenhausreferenten Dr. Erwin Hamm. Bei einem Skirennen auf dem Zugspitzplatt erlebte ich die Jungliberale erstmals persönlich. Dass nicht sie, die hervorragende Ski- und Schwimmsportlerin, sondern meine 17-jährige Tochter gewann, rang ihr eine spitze Nettigkeit über „die Kleene“ ab. Ja, diese Allround-Politikerin war ehrgeizig und selbstbewusst. Im früheren Bayern galt sie zeitweise als „die einzige Opposition“, Sie war liberal und tolerant bis auf die Knochen, aber sie wollte auch immer die Erste sein. So hat sie sich durchgeboxt ein langes Leben lang, bis zu ihrem Tod am 17. Dezember 2016. In drei verschiedenen Parlamenten genau so wie in hohen Staats- und in zahlreichen Ehrenämtern.

Hier, statt einer Kurzbiografie, ein paar miterlebte, kaum bekannte Streiflichter aus ihrer frühen Kampfzeit. Juli 1962: Die bayerische FDP erlebte eine Palastrevolte von rechts. Eine Handvoll sogenannter Jungtürken ergriff, ähnlich wie kurz zuvor in Düsseldorf vorexerziert, die Macht in ihrer Münchner Partei. Hinter verschlossenen Türen begannen Nationalliberale, angeführt von dem Musiker und Bezirksgeschäftsführer Josef A., die Altliberalen kaltzustellen. Neue Mitglieder wurden angeworben; die erfuhren in der Geschäftsstelle, welche Parteiprominente bereits „restlos vertrottelt“ oder „nichtarischer Abstammung“ waren. Die Heckenschützen zielten vor allem gegen zwei profilierte Persönlichkeiten: den ehemaligen Wirtschafts- und Finanzminister Dr. Otto Bezold (63) und die auf Kultur- und Verbraucherpolitik spezialisierte Landtagsabgeordnete Dr. Hildegard Hamm-Brücher. Die habe eine jüdische Großmutter und sei ein „hysterisches Weib“, hieß es. Sie hatte einmal auf die Ellbogenpolitik männlicher Parteifreunde mit Tränen reagiert. Doch nun war sie gar nicht zimperlich, sondern beschimpfte einige der Jungmänner als „Braunhemden“. Abgestraft wurde sie von der neuen, vom bäuerlichen Bundestagsabgeordneten Sepp Ertl tolerierten Mehrheit, indem sie auf den aussichtslosen Platz 18 der Landesliste versetzt wurde.

Raue politische Sitten, über die ich seinerzeit zu berichten hatte. Sie irritierten sogar die mächtige CSU, die nun plötzlich nicht mehr recht wusste, „welche Politik man von dieser neuen FDP-Garnitur zu erwarten hat“. So viel war immerhin sicher, dass für die angestrebte erneute Koalition der bisher gröbste Reibungspunkt, die von Frau Hamm-Brücher vehement verfochtene Kulturpolitik, zugunsten der Agrikultur in den Hintergrund gerückt werden sollte. Häufelstimmen verhalfen der Kandidatin dennoch erneut ins Maximilianeum, wo sie bald von Zeitungen als „einzige Opposition im Landtag“ gelobt wurde. Dort und auch auf der Straße stritt die Linksliberale für die Gleichstellung der Gemeinschaftsschule, notfalls durch ein Volksbegehren. Sodass ihr ein CSU-Kollege nahe legte, sie solle doch aus Bayern auswandern. Diesen Gefallen tat sie ihren Gegnern zwar nicht, aber sie sah sich in der Welt um, informierte sich und die Öffentlichkeit sogar über die Bildungssysteme in der Sowjetunion und der DDR.

Als die FDP im Herbst 1966 durch die NPD aus dem bayerischen Landtag verdrängt wurde, ließ sie sich von der hessischen SPD-Regierung als Staatssekretärin im Kultusministerium abwerben. Und als in Bonn eine sozial-liberale Koalition – ein alter Wunschtraum von ihr –gebildet wurde, wechselte sie mit gleichem Rang ins Bundeswissenschaftsministerium. 1970 trat sie mit reichem Erfahrungsschatz und kaum gebändigten Temperament wieder in die weißblaue Arena, um erneut die Rolle zu übernehmen, die ihr einst von CSU-Seite zugeschrieben worden war: „Haupt des Linksliberalismus“. Rückblickend auf die Frühzeit ihres Kampfes für Freiheit, Fortschritt und Demokratie schrieb die allzeit unabhängige Politikerin im Nachwort meines Buches Nachkriegsjahre“ eher resignierend als rühmend: „Die Veteranen von Weimar – meist politisch mehr oder weniger angeknackst – prägten Staat und Gesellschaft der Nachkriegszeit, und so konnte es geschehen, dass sie zu einer Nach-Weimar und nicht zu einer Nach-Hitler-Zeit wurde. Nach-Weimar-Zeit, das bedeutete Formaldemokratie, aufgepfropft auf unverändert ordnungsstaatlichen Prinzipien, das hieß Restauration und ja “keine Experimente“.

1991 zog sich die vielfach geehrte Hildegard Hamm-Brücher aus dem aktiven politischen Leben zurück, veröffentlichte zahlreiche Bücher, engagierte sich in zahlreichen Initiativen wie „Gegen das Vergessen“. 1994 zog sie ihre FDP-Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten im dritten Wahlgang zurück. 2002 trat sie aus der Freien Demokratischen Partei aus, nachdem diese von Guido Westerwelle als „Partei der Besserverdienenden“ definiert worden war. 2010 stimmte sie als Wahlfrau der hessischen Grünen bei der Kür des Bundespräsidenten für Joachim Gauck. Die deutsche Nachkriegs-Demokratie wäre ärmer gewesen ohne diese Frau. Dass 2018 draußen in Freiham eine Straße und ein Bildungscampus nach ihr benannt wurden, ist ein späte Würdigung der Stadt, in der die Grand Dame des europäischen Liberalismus groß geworden ist.

 

Die FDP lädt ein zur digitalen Veranstaltung "Bildungspolitik ist eine Mutfrage - Zum 100. Geburtstag von Hildegard Hamm-Brücher" am Freitag, den 11. Juni 2021 von 17.00 bis 18.30 Uhr. Dabei soll vor allem die Bildungspolitik im Mittelpunkt stehen, ein Tätigkeitsfeld, das Hamm-Brücher besonders am Herzen lag. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Jugend in der NS-Diktatur betonte sie stets die besondere Bedeutung von Bildung bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Über mehrere Jahrzehnte hinweg prägte die streitbare Reformerin die bundesdeutsche Bildungspolitik und setzte, beispielsweise durch ihren Beitrag bei der Erarbeitung der Stuttgarter Leitlinien zur Bildungspolitik der FDP, wichtige Akzente. Anmeldung über diesen Link: Offene Anmeldung zur Veranstaltung.

Veröffentlicht am: 04.06.2021

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