Dieter Kleins "Münchner Abreisskalender 2013"
München vorher und nachher - Die Stadt im Wandel
Schon seit 25 Jahren gibt der Kunsthistoriker und Bauforscher Dieter Klein den "Münchner Abreißkalender" heraus, mit dem er die Veränderungen im Stadtbild dokumentiert. Und manchmal wird er inzwischen durch die baulichen Entwicklungen überholt.
Was ist schöner? Eine kleine Villa mit Walmdach und großem Gartengrundstück in der Pienzenauerstraße, erbaut um 1950. Oder ein kastenförmiges, dreistöckiges Mehrfamilienhaus auf demselben Grundstück nach dem Abriss der alten Nachkriegsvilla? Von dem alten Garten ist lediglich ein schmaler Grünstreifen übrig geblieben. Oder ein anderer Vergleich: Ein Bauernhaus mit Balkon, Veranda und dem Charme des allmählichden Verfalls in der Josephsburgstraße, erbaut um 1800 und 200 Jahre später ersetzt durch einen gesichtslosen Wohncontainer - pardon: durch eine moderne, fünfstöckige Wohnanlage. Keine Spur mehr von Obstbäumen, hölzernen Lattenzäunen und dörflicher Idylle, die einst den Vorot Berg am Laim bestimmte. Wo - und wie - möchte man lieber wohnen?
Seit 2004 steht am gleichen Ort an der Josephsburgstraße eine Wohnhausanlage (Foto: Dieter Klein 2012)
Diese Gretchenfragen kommen einem in den Sinn, wenn man Dieter Kleins "Münchner Abreisskalender 2013" durchblättert.
Dass die Stadt sich wie ein lebendiger Organismus verhält, der zwangsläufig ständigen Veränderungen unterworfen ist, versteht sich von selbst. Unaufhaltsam nagt der Zahn der Zeit an den Gebäuden. Sind diese erst einmal in die Jahre gekommen, wird umgebaut, erweitert, abgerissen und neu gebaut. Manche Bauten überleben als Baudenkmäler und werden aufwändig saniert. Jedenfalls bis vor kurzem. Jetzt lautet die städtebauliche Zauberformel: Nachverdichtung um jeden Preis. Alte Bauten werden aufgestockt. Es entstehen Hochhäuser, die "im Stil von Hoch & Hässlich & Partner" gestaltet werden, schreibt der Kunsthistoriker und Bauforscher Dieter Klein im Vorwort seines Kalenders, der sich mit dem Thema der Stadtbildveränderungen beschäftigt.
Klein, der als Stadtführer und Lehrbeauftragter am kunsthistorischen Institut der Münchner Universität tätig ist, ärgert sich über spektakuläre Solitärbauten von Stararchitekten, die wie des Kaisers neue Kleider bewundert werden, "auch wenn es sich um einfache Schachteln handelt, die irgendwo abgeschrägt sind oder die auf schrägen Stützen stehen." Dabei ist es egal, ob diese Bauwerke ins Stadtbild passen und funktional, gebrauchstauglich oder ästhetisch ansprechend errichtet sind. Hauptsache, das künstlerische Ego ihrer Schöpfer wird damit gefriedigt.
So sah es am Gasteig einmal aus. Das Gasteigspital von Muffat und Zenetti wurde 1976 abgerisssen (Foto: Planungsreferat München)
Spekulanten profitieren von überzogenen Grundstückspreisen und freuen sich beim Eigentumswechsel über den Kahlschlag alter Bausubstanz, egal in welch brauchbarem Zustand ein Gebäude ist oder ob es unter Denkmalschutz steht. Denn in Relation zu den winkenden Gewinnmargen erscheint die Höhe einer Strafzahlung bei Abriss wie Peanuts. Abrissfirmen haber derzeit Konjunktur. Fast scheint es, als würden sie mit ihrem technischen Know-How noch effektiver arbeiten, als die Bomberschwadronen im Zweiten Weltkrieg mit der der nachfolgenden Nachkriegs-Erneuerungswelle zugunsten der autogerechten Stadt - der so genannten zweiten Zerstörung Münchens.
Dass der derzeitige Trend zur Verstädterung aber auch eine ganz andere Richtung nehmen kann, darauf macht Klein mit gewohnt offen Worten aufmerksam:... Städte mit hohen Zuzugsraten wie München werden ... unattraktiver, wenn Grünflächen und Gärten durch ständige Verdichtungen minimiert sind."
Vor einem Vierteljahrhundert ist Kleins erster "Münchner Abreisskalender" entstanden. Einige der damals errichteten Neubauten sind inzwischen selbst schon der Abrissbirne zum Opfer gefallen. Wenn die derzeitige Abrisswelle weiterim Eiltempo voranschreitet, was bleibt dann noch an historischer Originalsubstanz übrig, die einer Stadt wie München außer ihren vielen Nachkriegs-Rekonstruktionen ihr unverwechselbares Gesicht gibt? Der Betrachter des Fotokalenders mag selbst entscheiden, ob die hier gezeigten Vergleichsbeispiele zur Verbesserung oder Zerstörung des Münchner Stadtbildes beigetragen haben.
Das Titelbild des Kalenders schmückt das 1913 von Karl Hocheder fertig gestellte Verkehrsministerium an der Ecke Arnulf- und Seidlstraße. Im Krieg teilweise zerstört wurde die gewaltige, schlossartige Anlage im historischen Stil des Neobarock mit Torbögen, Ehrenhof und 72 Meter hoher Kuppel bis auf einen Gebäuderest mit teils neuer Fassade abgerissen. Mehr Kontinuität ist dem Straßenverkehr an diesem Ort beschieden. Wie eh und je fährt die Tram hier ihre angestammte Route.
Im Eigenverlag und im Buchhandel für 12,50 Euro